Zusammenleben, Teilhabe und sozialer Zusammenhalt
Besprechung von »Vielfalt und Sicherheit im Quartier – Konflikte, Vertrauen und Zusammenhalt in europäischen Städten« von Gabriel Bartl, Niklas Creemers und Holger Floeting (Hg.)Gabriel Bartl, Niklas Creemers, Holger Floeting (Hg.)
Vielfalt und Sicherheit im Quartier – Konflikte, Vertrauen und Zusammenhalt in europäischen Städten
Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), Impulse, Band 3/2020
182 Seiten, 20 Euro
Der vorliegende Band der Difu Impulse versammelt ein vielfältiges, reichhaltiges und spannend zu lesendes Spektrum an Beiträgen von Expert*innen und Praktiker*innen aus Fachverwaltungen europäischer Städte und Gemeinden, aus Wohnungswirtschaft und Wissenschaft sowie Polizei. Hintergrund und Kontext des Bandes ist das Forschungsprojekt DIVERCITY – Sicherheit und Vielfalt im Quartier, in dem das Landeskriminalamt Niedersachsen, der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Niedersachsen und Bremen und das Difu (Deutsches Institut für Urbanistik) gemeinsam an diversitätsorientierten Sicherheitsstrategien für vielfältige Städte zusammenarbeiteten.
Im ersten Abschnitt des Bandes werden unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Thema Sicherheit und Vielfalt vorgestellt. Dabei plädiert Marc Schuilenburg von der Vrije Universität Amsterdam dafür, Sicherheit neu und prozessorientiert zu denken, vor allem die Nachbarschaft und deren Wissen nach dem Motto Die Nachbarschaft übernimmt das Steuer einzubeziehen.
Die zwei zentralen Beiträge des Projektteams von DIVERCITY, Gabriel Bartl, Niklas Cremer und Holger Floeting, zugleich die Herausgeber*innen des Bandes, gehen auf Forschungsergebnisse zu Formen der kommunalen Zusammenarbeit in vielfältigen Stadtquartieren und Ergebnisse einer bundesweiten Befragung kommunaler Ämter und kommunale Handlungsmöglichkeiten beim Umgang mit Vielfalt und Sicherheit ein. Sie führen den Begriff der diversitätsorientierten Sicherheitsstrategien ein und beschreiben diesen differenziert und nuancenreich im vielfältigen Zusammenspiel der gesellschaftlichen Akteur*innen, seine Chancen und Grenzen vor dem Hintergrund eines Leitbilds der offenen und vielfältigen Stadt.
Felicitas Hillmann vom Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung sticht im ersten Abschnitt mit ihrem historischen Rückblick zum Thema Stadtentwicklung und Migration aus dem Spektrum der Forschungsbeiträge hervor. Dieser fordert eine kosmopolitische Orientierung und Sicht auf das Thema ein und betont die regenerative Kraft von Städten im Kontext von Migration und durch die Migration entstandene Diversität. Hillmann analysiert die produktive Kraft des Uneindeutigen und Unsicheren, der das Wesen von Städten ausmache, und vergleicht Stadtbewohner*innen mit Migrant*innen, die mit Fremdem, Neuem umgehen (lernen) müssen. Als einzige entzieht sie sich in ihrem Beitrag der Rahmung Vielfalt und Sicherheit. Auch scheut sie sich nicht, die Themen der rassistischen Zuschreibungen im Diskurs und der Verquickung von Migration und Sicherheit zu benennen.
Im zweiten Abschnitt geben mehrere Autor*innen anregende Einblicke in die lokale Praxis: Udo Häberlin von der Abteilung für Stadtentwicklung der Stadt Wien wählt das Beispiel der ambitionierten partizipativen Freiraumgestaltung, die den Bewohner*innen Hoffnung als Kraft gegen die Angst geben kann; München hat ein Team zur allparteilichen Konfliktmediation (AKIM) etabliert und arbeitet damit erfolgreich an der Schnittstelle von Vielfalt und Sicherheit, laut Brigitte Gans, Leiterin der Stelle im Sozialreferat von München. Umfassende Strategien zur sozialen Inklusion und Kriminalitätsprävention sowie positiver von Vielfalt geprägter Identität in Mechelen haben die Stadt in Belgien von einem Negativ- zu einem Vorzeigebeispiel gemacht, wie Werner van Herle, Leiter der Abteilung Prävention und öffentliche Sicherheit, eindrucksvoll ausführt.
Allen Beispielen gelungener Praxis gemeinsam ist die Betonung von Sicherheit als sozialer Prozess. Dieser wird dynamisch und von vielen Akteur*innen aus allen Bereichen der Gesellschaft top-down und bottom-up sowie dem positiven Leitbild einer vielfältigen Stadt getragen. Will er nachhaltig zielführend sein, muss er den jeweiligen Gegebenheiten und Herausforderungen angepasst werden.
Viele Beiträge hinterfragen kritisch den eng geführten Zusammenhang von Vielfalt und Sicherheit bzw. thematisieren die Gefahren rassistischer Zuschreibungen und Polarisierung im Kontext von medialen und politischen Auseinandersetzungen zu (Un-)Sicherheit infolge von Flucht und Migration, vor allem nach 2015/2016. Die ausführliche theoretische und praktische Diskussion von Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenhalts entlang diversitäts- und aushandlungsorientierter Strategien auf kommunaler Ebene sowie das durchgängig positive und prozessorientierte Verständnis von Sicherheit, das Partizipation und Aushandlung von Konflikten durch lokale Gesellschaften und Bürger*innen und viel Lernbereitschaft von allen auf allen Ebenen erfordert, machen das Lesen zu einer ermutigenden Reise durch Ansätze und Projekte.
Aus einer menschenrechtlichen Perspektive müssten in gesellschaftlichen Diskursen und Praxen zu gesellschaftlichem Zusammenhalt die gleiche Würde und Gleichbehandlung aller Bewohner*innen betont werden. Damit kommt der unauflöslich erscheinende Konnex von Vielfalt und Sicherheit in Titel und Projekt, der der gesellschaftlichen Vielfalt, meist gemeint die durch Migration und Flucht herbeigeführte, die (Un-)Sicherheitsdimension negativ einschreibt, in Konflikt. Durch eine andere Rahmung in Titel und Forschungsdesign(s) könnte dieser Konnex aufgebrochen und die strukturellen Herausforderungen sozialer Ungleichheit sowie die (Lern-)Potenziale u. a. durch Migration hervorgebrachter Uneindeutigkeit im Sinne einer urbanen Kompetenz bei der Analyse und Lösungsfindung deutlich(er) in den Blick genommen werden.
Dennoch: der 180 Seiten starke Band ist eine reichhaltige Lektüre und Fundquelle für an Forschung und alltagstauglicher Praxis Interessierte zu Zusammenleben, Teilhabe und sozialem Zusammenhalt in vielfältigen Stadtvierteln, inzwischen eine Normalität in europäischen Städten, aus der sich viel lernen lässt.
Karin König