Zweimal Leben! Wie sich durch Film unsere Realität erweitert
Besprechung des Filmes »Homeland (Iraq Year Zero)« von Abbas FahdelWie wichtig Filme sind, die das Leben und Sterben von Menschen in Ausnahmesituationen ausgelöst durch Kriege thematisieren, zeigt der anlässlich der Viennale 2016 präsentierte Film Homeland (Iraq Year Zero). Abbas Fahdels Film birgt als Dokumentarfilm durch seine Dauer von 334 Minuten zwar Tücken der Überlänge in sich, der sich selbst eingefleischte ViennalistInnen entziehen. Umso beeindruckender ist es, wie es dem Filmemacher gelingt, durch seine synoptisch, analytisch scharfsinnige, chronologische Erzählweise und ein sicheres Gefühl für Bilddramaturgien, Schnitt und Rhythmus das Publikum nicht nur zu fesseln, sondern zu animieren, über visuelle Regimes, die Macht von Bildern und Medien als Weltwahrnehmung und Strukturgeber von Informationen unter versetzten Vorzeichen nachzudenken. Die Künstlerin Hito Steyerl schrieb in ihrer Publikation Die Farbe der Wahrheit (2008) über den »documentary turn« und darüber wie dokumentarische Methoden im Kontext einer medialen Globalisierung markante Transformationen durchlaufen und sich dadurch das Verhältnis dokumentarischer Formen zur Realität völlig verändert. Heute wirkt daran die Omnipräsenz von Social Media sehr stark mit.
Geboren in Babylon, Irak, entscheidet sich der Filmemacher, Drehbuchautor und Filmkritiker Abbas Fahdel als 18-Jähriger für ein Leben in Paris, wo er an der Sorbonne Film studiert. Für das Filmprojekt Back to Babylon kehrt er 2002 – ein Jahr vor der Invasion der US-amerikanischen Streitkräfte – in den Irak zurück, um ein Porträt seiner im Irak lebenden Freunde und Freundinnen aus dem Blickwinkel des emigrierten temporären Heimkehrers zu zeichnen. Parallel dazu startet er mit dem das Leben seiner Familien porträtierenden Dokumentarfilmprojekt Homeland (Iraq Year Zero), das sich in die zwei Teile Before the Fall und After the Battle splittet. Unter intimen Rahmenbedingungen, sich dem Genre einer Reality Show bedienend, filmt er das tägliche Leben seiner Familie, Verwandten und Nachbarn in Bagdad, deren Vorbereitungen auf einen möglichen Krieg und deren Versuch des Aufrechterhaltens einer Normalität. Einen der Höhepunkte bildet die Feier einer Hochzeit. Sein Hauptprotagonist ist sein zum Zeitpunkt des Drehs 12-jähriger Neffe Haidar, der in seiner unbändigen Lebenslust im permanenten heiteren Schlagabtausch mit seinen Cousinen komische slapstickartige Situationen provoziert. Der Witz wird dabei zum Ausdrucksmittel, um Dinge aus dem Alltäglichen heraus zu überzeichnen und sichtbar zu machen.
2003, zwei Wochen nach dem Einmarsch der US-Armee, reist Abbas Fahdel erneut in den Irak und setzt sein Projekt fort. An jedem Detail des Alltags – vom gemeinsamen Kochen für die Nachbarschaft über das Geplänkel zwischen den Kids und Teenagern sowie der heftigen Kritik an der amerikanischen Invasion bis zu einer Konfrontation mit Kindern, die mit Handgranaten jonglieren – lässt uns Abbas Fahdel direkt an seinem Erleben der irakischen Realität teilhaben. Er stellt sich vor allem die Frage, wie ein Überleben inmitten der desaströsen Konsequenzen möglich ist, die durch die amerikanische Invasion bewirkt werden. Im Gegensatz zu Teil 1, Before the Fall, der mehr in Innenräumen oder in Innenhöfen spielt, verlagert sich in Teil 2, After the Battle, der Schauplatz in den Außenraum. Zentraler Aspekt dabei sind ganze Stadtviertel durchschweifende Kamerafahrten im Auto. Aufgezeigt wird, wie sich gesellschaftliche und soziale Prozesse in Bagdad durch den Zustand der Invasion auf einen völligen Stillstand der alltäglichen Abläufe zubewegen. Jede Handlung im Außenraum wird durch die überall auflauernden Heckenschützen zu einem riskanten Unterfangen, ständig knallen Schüsse knapp an den ProtagonistInnen vorbei, die trotzdem in keine Panik verfallen. Der Besuch der Schule oder Einkäufe am Markt sind nicht mehr möglich. Einzelne Stadtteile Bagdads werden zur Sperrzone erklärt. Heftig protestieren Anrainer und Anrainerinnen dagegen.
In der Dramaturgie des Schnitts konzentriert sich Abbas Fahdel, der auch die Kamera selbst führt, zunehmend auf Haidar. Trotz seiner Jugend tritt Haidar mit politisch klaren Ansagen vor die Kamera. In einer Diskussion mit den Nachbarn verweist er auf die Gefahr, dass die USA durch ihren imperialistischen Akt der Besatzung den Irak zum zweiten Palästina machen. Trotz dieses Drangs sich öffentlich zur politischen Situation zu äußern und der Einspielungen medialer Berichterstattungen auf Fernsehschirmen, bleibt Homeland ein privates Gesellschaftsporträt. Es zeigt auf, wie die Zäsur durch den Krieg die Bevölkerung mit zwei Realitäten konfrontiert und mit den dadurch erzeugten Bruchstellen und Spannungen. Während Teil 1, Before the Fall, als Bestandsaufnahme von dramatischen Veränderungsprozessen noch auf einen Ausweg hoffen lässt, zeigt Teil 2, After the Battle, wie sich trotz aller Überlebensstrategien die Situation drastisch zuspitzt. Der Tod des 12-jährigen Haidar am Ende des Films bewirkt ein erschütterndes Schweigen. Erst 12 Jahre später ist Abbas Fahdel dazu fähig, den Film zu schneiden und zu veröffentlichen. In der Zwischenzeit produziert er den Dokumentarfilm We Iraquis (2003) und den Spielfilm Down of the World (2008), in welchen er die Auswirkungen des Krieges am Golf auf das Leben in der Region thematisiert. Homeland (Iraq Year Zero) gestaltet sich zu einer tiefgreifenden Dokumentation, die einschlägigen Medienberichten die realen Erfahrungen der unmittelbar Betroffenen gegenüberstellt. In der Kameraführung gelingt es, intime Momente mit der Rohheit eines realistischen Kinos zu verknüpfen und den mutigen Akt einer Zeugenschaft zu setzen.
Im Publikumsgespräch im Rahmen der Viennale berichtet Abbas Fahdel über seine Erfahrungen und begeisterten Reaktionen von ZuschauerInnen während seiner Präsentation in den USA. Gleichzeitig gibt er Auskunft darüber, weshalb er seinen Film erst 12 Jahre nach Drehschluss zu schneiden begann; zu schmerzhaft war für ihn der Verlust seines Neffen Haidar, dem er den Film widmet.
Ursula Maria Probst