Zwischen Integration und Branding: Die Sargfabrik
Interview mit Ute Fragner und Rainer TietelDas Projekt »Sargfabrik« ist ein Wohn- und Kulturprojekt, das aus einem Kreis an Interessierten entstanden ist, der sich zum »Verein für integrative Lebensgestaltung« zusammengeschlossen hat und – in Österreich ziemlich einzigartig – als Bauträger aufgetreten ist. Was dabei auf dem Gelände einer alten Sargfabrik in Wien Penzing in der Matznergasse entstanden ist, ist eine multifunktionale Wohnanlage, in die unterschiedlichste Kultureinrichtungen (Veranstaltungs- und Seminarraum, Kindergarten, Badehaus, Lokal) und Gemeinschaftsräume integriert sind. Das von BKK-2 geplante »Wohnheim«, das nun mittlerweile in die Jahre geht – Fertigstellung war 1996 – ist in Architekturkreisen weithin bekannt, das Kulturzentrum ist fixer Bestandteil des Wiener Kulturlebens. Seit gut zwei Jahren gibt es einen Ableger in nächster Nähe der »alten« Sargfabrik: die MISS Sargfabrik in der Missindorfstraße. Unabhängig davon ist nun ein weiteres sehr ähnlich aussehendes Projekt entstanden: das Impulszentrum IP.ONE in Wien Favoriten, ein Gewerbezentrum mit Gemeinschaftseinrichtungen, geplant von BKK-3 – in Nachfolge von BKK-2. Und ob der großen Nachfrage treten Know-how-Träger der Sargfabrik nun auch in einem eigens gegründeten Verein als Projektentwickler auf.
Aus diesem Anlass und in Hinblick auf das Schwerpunktthema dieses Heftes führten Edeltraud Haselseiner, Udo Häberlin, Christa Kamleithner und Roland Tusch ein Interview mit Ute Fragner, einer Mitinitiatorin der Sargfabrik, die aktives Mitglied in der Projektsteuerungsgruppe war und derzeit im Vorstand des »Vereins für integrative Lebensgestaltung« ist, und mit Rainer Tietel, Projektleiter der MISS Sargfabrik und Mitglied im »Verein für integrative Lebensgestaltung«. Zusammen gründeten sie den Verein »Sargfabrik Wohnprojekte« mit dem Ziel, das Know-how für weitere Wohnprojekte auch anderen Gruppen zugänglich zu machen. Das Interview wurde von Udo Häberlin und Roland Tusch transkribiert und gekürzt.
dérive: Hinter den Wohnprojekten »Sargfabrik« und »MISS Sargfabrik« steckt die Idee einer integrativen Lebensgestaltung. Was heißt das konkret und wie kam es zu diesen Projekten?
Ute Fragner: Ende der achtziger Jahre gab es Bestrebungen von bewussten und kritischen Menschen, die mit ihren Wohn- und Lebensbedingungen unzufrieden waren, aktiv zu werden und sie zu verändern. Es gab damals schon so genannte »alternative« Wohnprojekte, wie z. B. Maria Lanzendorf. Sie ließen uns von ihren Erfahrungen profitieren.
Die Sargfabrik hat zwei Wurzeln: Eine Gruppierung, die – im weitesten Sinne – aus gemeinsamer politischer Aktivität heraus entstand (Anti-AKW, Technologiekritik, ...), organisierte Treffen, entwarf ein erstes Anspruchspapier und gründete 1987 den »Verein für integrative Lebensgestaltung«. Die zweite Initiative ging von einer bestehenden Wohngemeinschaft aus. Der Architekt Johann Winter wusste von der Objektsuche beider Gruppen und regte einen Zusammenschluss der beiden Gruppen an. Was anhand der Auseinandersetzung über den Kauf der ehemaligen Sargfabrik dann auch geschah. Ziel des gemeinsamen Vorhabens war es, in gemeinsamer Planung und Verantwortung einen Lebensraum zu schaffen, in dem der gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur Ausgrenzung ein neues gemeinschaftliches Prinzip entgegengesetzt wird.
dérive: Wie sah das ursprüngliche Konzept vom Wohnen und Leben in der Sargfabrik aus, und wieviel ist davon aufgegangen?
Ute Fragner: Die Sargfabrik sollte in gemeinschaftlicher Planung entstehen, d. h. der Prozess des gemeinschaftlichen Nachdenkens über das »Was wollen/brauchen wir wirklich?«, »Wie können wir das auf Dauer stellen?« und »Wie können wir auch zukünftigen Entwicklungen Rechnung tragen?« war Teil des Konzepts. Es ging um die Schaffung von Freiräumen für Kultur, für Veranstaltungen, für politische Aktivitäten, für Kinder, für all das, was das Leben lebenswert macht. Es ging um Nachbarschaft, um ökologische und soziale Verträglichkeit.
Das Mietrecht regelt die Rechte des Einzelnen in einem System, das stark von den Interessen der Hausbesitzer dominiert ist, regelt und/oder schützt aber nicht die Bedürfnisse und Interessen einer Hausgemeinschaft. Wir wollten einerseits für den Einzelnen nicht hinter die Errungenschaften des Mietrechts zurückfallen und zusätzlich Verbindlichkeiten zum Schutz der Gemeinschaft herstellen.
Es sollten Wohnraum und Gemeinschaftseinrichten entstehen. Was die räumlichen Anforderungen betraf, haben wir Recherchen gemacht bei bestehenden Wohnprojekten, z. B. in Deutschland, und haben gesehen, dass Gemeinschaftsflächen immer nur die waren, die als Restflächen übergeblieben sind. Wir werten die Gemeinschaftsflächen komplett auf und nehmen sie als Drehpunkte nach außen. Wir wollten kein Ghetto bilden, sondern auch für das Umfeld eine Funktion übernehmen. Wir schufen räumliche Angebote zur Begegnung und zur Kommunikation, wie z. B. das Badehaus, den Veranstaltungsraum, das Beisl, usw. Wir haben sogenannte teilöffentliche Flächen geschaffen, die sowohl eine interne Funktion haben, aber auch von Außenstehenden genutzt werden können. Daher mussten wir sie einerseits als hochwertige, attraktive Flächen gestalten (Veranstaltungsraum, Seminarraum, Kindergarten, etc.), aber auch professionell betreiben. Es gibt aber auch reine Gemeinschaftseinrichtungen, in denen Funktionen des Alltags übernommen werden, auch die sind in attraktiver Lage und gut ausgestattet. So ist z. B. die Waschküche nicht im letzten Eck des Kellers, sondern als »blauer Salon« im ersten Stock. Das Prinzip ist, dass die teilöffentlichen Flächen sowohl von BewohnerInnen als auch von BesucherInnen genutzt werden können.
Das ist ein Punkt, wo wir vielleicht hier in der Sargfabrik in der Größe und in der Offenheit möglicherweise ein Stück zu weit gegangen sind. In der MISS Sargfabrik haben wir dann zum Ausgleich auch Gemeinschaftsflächen geschaffen, die hauptsächlich BewohnerInnen und ihren Gästen zur Verfügung stehen, die gar nicht den Charakter einer zu großen Öffentlichkeit haben.
dérive: Zu wenig an Gemeinschaft? An Intimität? Was ist zu weit gegangen?
Ute Fragner: Eine Gemeinschaft in dieser Größenordnung braucht einen bestimmten Bereich der Identitätsfindung. Sie kann nicht ausschließlich in der Öffentlichkeit leben. Es muss bestimmte Abstufungen und Möglichkeiten geben, wo die BewohnerInnen auch einmal unter sich sein und zu sich selber finden können, aber nicht in einer Ausschließlichkeit, sondern in einem Bereich.
Rainer Tietel: Eine unserer wesentlichen Erkenntnisse ist, dass wir keine Gruppe sind - wie viele andere Wohnprojekte - sondern ein Gemeinwesen darstellen, was wir auch als eine Stärke des Projekts empfinden. Hier leben fast 250 Menschen, und es gibt viele Möglichkeiten, sich zu betätigen und zu engagieren. Der große Vorteil gegenüber einer herkömmlichen Gruppe ist, sie zerbricht nicht, sobald ein, zwei Mitglieder sich nicht mehr beteiligen oder unter einzelnen Mitgliedern Konflikte entstehen. In unserem Gemeinwesen gibt es viele Initiativen und Gruppen, die gemeinsame Aktivitäten entwickeln. Da gibt es private und politische, öffentliche und halböffentliche Aktivitäten. Beispielsweise eine Gruppe von BewohnerInnen, die sich für den Frieden am Balkan engagieren. Die haben es geschafft, eine Gruppe von Jugendlichen aller Ethnien aus dem Kosovo in die Sargfabrik einzuladen, und hier ein vielfältiges mehrwöchiges Programm zu gestalten. Andere entwickeln künstlerische Aktivitäten, gestalten Ausstellungen, initiieren Trommelworkshops für Kinder aus der Nachbarschaft oder Aktzeichenkurse. Es gibt Nachbarschaften, die sich zusammenfinden und beispielsweise eine Gruppe von Leuten, die gerne gärtnern. Sie übernehmen die Pflege des Dachgartens und die Kompostierung der vegetabilen Abfälle aus dem gesamten Projekt. Andere BewohnerInnen machen gemeinsam Hausmusik oder singen im Chor der Sargfabrik. Es gibt Tanzkurse und viele andere gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten. Es gibt selbstverständlich auch die Möglichkeit, einfach hier zu wohnen und beispielsweise zu sagen, ich hab viel Stress im Beruf, ich kann mich nicht so engagieren, und in zwei Jahren übernehme ich wieder eine tragende Funktion oder engagiere mich, wenn ein Thema aktuell wird. Was in unserer Größenordnung wegfällt, ist der übliche Gruppendruck kleiner Wohnprojekte. Dort ist klar, wenn jemand eine Party macht, und einer kommt nicht, fragen am nächsten Tag alle, warum warst du nicht da? Da ist der soziale Druck groß. Wenn bei uns jemand eine Einladung per Aushang macht, kommt vielleicht ein Viertel der Leute hin, und es ist okay.
dérive: Wie ist der Alltag in der Sargfabrik? Wie ist der Konnex zwischen Wohnen und Arbeiten?
Ute Fragner: Wohnen und Arbeiten an einem Ort zu verbinden war uns immer wichtig. Es wurden mittlerweile ca. 20 Arbeitsplätze im Seminar- und Kulturhaus, im Kindergarten, im Badehaus und natürlich in der Hausverwaltung geschaffen. Vorher gab es die Idee von Tischlereien, von Büros und einem Verlag ..., aber das Leben und der Betrieb hier hat andere Arbeitsplätze hervorgerufen als ursprünglich intendiert.
Rainer Tietel: Neben den Angestellten des Vereins haben einige BewohnerInnen hier Büros gemietet, andere arbeiten freiberuflich in ihrer Wohneinheit. Es gibt KünstlerInnen mit Atelier quasi in der Wohnung und Musiker mit eigenem Probenraum. Dann haben wir eine ganze Reihe von Leuten aus den Gesundheitsberufen im Haus, die Gemeinschaftspraxen mit Ärzten und Therapeuten, Psychotherapie, Massageangeboten etc. betreiben. In der MISS Sargfabrik wurde das Konzept vom Wohnen und Arbeiten noch weiterentwickelt und in der Erdgeschoßzone sogenannte »Homeoffices«, sowie ein Bereich für (von der privaten Wohneinheit getrennte) Teleworking-Arbeitsplätze errichtet.
dérive: Ihr habt zuvor davon gesprochen, dass die Sargfabrik so groß ist, dass sie eher ein »Gemeinwesen« als ein geschlossener Freundeskreis ist. Wie funktioniert dieses Gemeinwesen, wie ist es strukturiert?
Rainer Tietel: Wir sind als Verein rechtlich verankert. Grundsätzlich ist jedeR BewohnerIn Vereinsmitglied und hat über die eigene Wohneinheit hinaus Mitbestimmungsmöglichkeit und Mitverantwortung für das gesamte Projekt. Als Ausnahme gibt es »Flexboxen« für zeitlich befristete MitbewohnerInnen oder Wohneinheiten für »Behinderte« auch ohne eine Vereinsmitgliedschaft. Aber es ist möglich und erwünscht, dass sie auch Vereinsmitglied werden.
dérive: Wie funktioniert Demokratie und Partizipation bei Euch?
Ute Fragner: Entscheidungen trifft eine 2/3-Mehrheit, wobei ein Minderheitenschutz und ein Schutz bei zu vielen Enthaltungen eingebaut ist. Jeder von uns hatte schon Erfahrungen aus unterschiedlichen Gruppierungen, wo es auch 95% Enthaltungen geben konnte und 3 dafür und 2 dagegen waren. Da kann niemand von einer qualifizierten Meinungsbildung sprechen. Deshalb haben wir Klauseln eingebaut, dass, wenn sich mehr als 1/3 enthält, die Entscheidung vertagt werden muss, um den Leuten eine weitere Beschäftigung mit dem Thema zu ermöglichen.
Rainer Tietel: Es gibt zwei reguläre Jahreshauptversammlungen, die Frühjahrs- und die Herbstsitzung, die jeweils etwa einen halben Tag dauern. Dort beschäftigen wir uns mit dem Jahresarbeitsprogramm, Budget, Rechnungsabschluss, Vorstandswahlen, Berichten der diversen Arbeitsgruppen, des Vorstands, des Geschäftsführers und der Rechnungsprüfer. Allerdings kann jedeR jederzeit eine Versammlung als ein Plenum einberufen. Ein Plenum hat eher beratende, meinungsbildende Funktion. Wenn wichtige Entscheidungen zu treffen sind, dann muss eine außerordentliche Generalversammlung einberufen werden.
Ute Fragner: Die Grundsätze unseres Zusammenlebens haben wir in einem sogenannten »internen Vertrag« vereinbart. Aber nur in wirklich groben Zügen, ohne dabei dogmatisch zu sein. Uns war klar, dass sich das Zusammenleben entwickeln muss, und dem wollten wir einen Rahmen geben. Wenn ich heute sage, ich miete einen Autobus und fahr’ nach Rom, dann sag’ ich: Ich fahr’ nach Rom, jeder, der nach Rom will, der soll bitte zusteigen, ist mir gleichgültig, ob der violett, grau, grün, gelb oder sonst wie ist. Wir haben das Ziel Rom. Wenn aber jeder zusteigt, und irgendwann sagt einer, eigentlich will ich nicht nach Rom, sondern nach Budapest, sitzt er vielleicht im falschen Bus. Wenn plötzlich die Mehrheit der Leute in dem Bus sagt, wir wollen eigentlich nicht nach Rom, sondern nach Budapest, dann wird es schwierig, wer sich durchsetzt. Demokratisch ist beides, weil ich mich bestimmten Mehrheiten unterwerfe. Was ist Demokratie? Ich sage: Ich habe ein Ziel, und jeder der dieses Ziel unterschreibt, soll bitte mitfahren, oder soll jeder mitfahren, und wir entscheiden alle 5 Minuten, wohin wir hinfahren? Das ist eine große Herausforderung und bedingt eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Prinzip Demokratie.
dérive: Wieweit habt Ihr Euch mit historischen Wohnutopien beschäftigt oder an sie angeknüpft?
Ute Fragner: Unser Ansatz war immer ein pragmatischer.
Rainer Tietel: Wir wollten versuchen, ein ökonomisches Modell zu finden, das sich alle in der Gruppe leisten können. Leider zahlen wir viele Zinsen an die Bank, dem konnten wir uns nicht entziehen. Wir haben Privateigentum bewusst ausgeschlossen. Die Sargfabrik ist auch ein Gegenmodell zur heute leider vorherrschenden Eigentumsphilosophie. So gesehen knüpfen wir am ehesten an den ursprünglichen Genossenschaftsideen an. Wenn ich ausziehe, gebe ich meine Wohneinheit dem Verein zurück und bekomme genau das Geld zurück, das ich quasi wie einen Genossenschaftsanteil eingebracht habe.
dérive: Die Sargfabrik ist ja mittlerweile ziemlich bekannt geworden. Was – würdet Ihr sagen – macht Euren Ruf aus, was ist das Geheimnis Eures Erfolges?
Rainer Tietel: So lange es eine Unterversorgung mit Wohnungen gab, konnte man ja bauen, was man wollte und hat trotzdem MieterInnen gefunden. Diese Zeiten sind scheinbar, zumindest kurzfristig, vorbei. Nun beschäftigt die Bauträger das Schlagwort vom »Wohnen mit Mehrwert«: Wie schaffen wir es, unsere Wohnungen an den Mann/an die Frau zu bringen. Wir gehen den entgegengesetzten Weg: zuerst ist da der Bedarf der zukünftigen BewohnerInnen, dann werden die Pläne gemacht, und es entsteht eine ganz besondere Qualität. In die Sargfabrik kommen viele Exkursionen, und es gibt immer wieder tolles Feedback. Da gab es dann auch schon Anfragen von Bauträgern nach Kooperationen und Beratung. Wir haben mit der MISS Sargfabrik versucht zu beweisen, dass die Sargfabrik kein Unikat ist. Es wurde immer gesagt, dass die Sargfabrik einmalig und nicht zu wiederholen sei, aber sowohl vom Verein als auch von den Architekten gab es die Ambition zu sagen: das ist kein Unikat.
Die Erweiterung des bestehenden Projekts ist quasi der Beweis, dass es entwicklungsfähig ist. An einigen Punkten haben wir das Konzept weiterentwickelt, wie Wohnungsgrundrisse und Raumangebot. So ist die MISS eine wirklich gute Ergänzung, auch um dem Gedanken der Gemeinschaftsentwicklung Rechnung zu tragen. So haben wir jetzt viele kleine Wohnungen, eine Bibliothek, Gemeinschaftsküche und Jugendraum, also ergänzende Angebote zu dem, was wir in der Sargfabrik schon hatten. Eine Erfahrung ist, dass man offensichtlich auch Räume braucht, die nicht so klar definiert sind, damit sich etwas entwickeln kann.
dérive: Wie weit habt Ihr Euch in das umgebende Gebiet integrieren oder es sogar beleben können? Oder wieweit ist die Sargfabrik eine Enklave geblieben? Wie ist die Akzeptanz in der Nachbarschaft?
Ute Fragner: Anfangs konnte man uns nicht einordnen, wir waren fremd. Wir sind in die Nachbarhäuser gegangen und haben »Klinken geputzt«. Wir haben uns vorgestellt, haben ein Papier verteilt und sind erst einmal teilweise ganz stark auf Ablehnung gestoßen. Dann hatten wir das Gefühl, jetzt haben wir genug informiert und haben die Bautafel aufgehängt. Was man vor allem mitkriegt, sind die negativen Stimmen: die Leute hatten »Wohnheim« gelesen und waren misstrauisch – wer weiß, wer da wohnen wird ... Dann ergab sich aber bald ein sehr differenziertes Bild. Viele Menschen in der Umgebung sind sehr froh, dass wir hier sind, weil wir im Bezirk Akzente setzen und das Angebot bereichern, z. B. durch das Lokal, den Kindergarten, das Badehaus. Heute sind wir meines Erachtens gut akzeptiert und integriert und spielen als kultureller, sozialer und ökonomischer Faktor im Bezirk eine große Rolle.
dérive: Wen sprecht ihr an? Ist es auch die nähere Umgebung, die ihr ansprechen wollt, oder ist es eher eine ganz spezifische Klientel?
Rainer Tietel: Das ist ganz gemischt. Es gibt Beispiele, wie den Kindergarten oder das Bad, die eher Nahversorgung sind. Das Badehaus hat 24 Stunden geöffnet. Wir haben das als Clubbetrieb organisiert und jedeR kann eingeschult werden, Badeclubmitglied werden und hat dann einen Badehausschlüssel. Und das sind neben allen Vereinsmitgliedern und BewohnerInnen über 75% externe Badegäste. In den anderen Bereichen, wie dem Seminar- und Kulturhaus, ist das Einzugsgebiet eigentlich ganz Wien und teilweise auch darüber hinaus.
dérive: Habt ihr keine Angst vor einer Mono-Gemeinschaft, wie Klöster, die zu Altenheimen werden?
Ute Fragner: Wir werden es nicht, wir sind ein selbstbestimmtes »Altersheim« – ein Heim jeden Alters! Im Moment hab’ ich eher Angst vor den vielen alleinerziehenden Müttern mit kleinen Kindern, die bei uns nachfragen – nur in Balance mit anderen Altersgruppen kann das gut sein, sich sinnvoll ergänzen.
Rainer Tietel: Bei der MISS haben wir im Falter unter »Partnersuche« eine Inseratserie geschaltet: »MISS sucht Männer.«
dérive: Wollt Ihr weitere Projekte realisieren?
Rainer Tietel: Es ist ja so, dass wir von Hunderten Leuten, die ein ähnliches Projekt wollen, Motivation erhalten und auch angetrieben werden. Viele Leute fragen, wann eine Wohneinheit frei wird, viele wollen sich engagieren, wenn neue Projekte kommen. Das ist sicher eine Wurzel für die Überlegung, das Know-how hier zu nutzen oder weitergeben zu wollen. Vor kurzem haben wir daher den Verein »Sargfabrik Wohnprojekte - Verein zur Förderung integrativer gemeinschaftlicher Lebensformen« gegründet, mit der Absicht in dieser Richtung aktiv zu werden.
Ute Fragner: Mit dem Verein »Sargfabrik Wohnprojekte« haben wir zunächst die Möglichkeit, in einem rechtlichen Rahmen erste Schritte zu setzen. Wenn sich dann konkrete Projekte herauskristallisieren, muss eine jeweils adäquate Rechtsform gefunden werden. Der »Verein für integrative Lebensgestaltung« selber sagt: Im Prinzip wollen wir natürlich, dass Vereinsziel und Vereinszweck gemäß den Statuten weitergetragen werden, aber der Verein selbst, in dieser ehrenamtlichen Struktur, ist nicht in der Lage dazu. Das heißt, neue Projekte werden in eine andere Struktur und Rechtsform ausgelagert und das praktisch vorhandene Know-how genutzt und weitergegeben.
dérive: Was unterscheidet Euch von herkömmlichen Bauträgern?
Rainer Tietel: Den Unterschied sehe ich im Wesentlichen darin, dass wir Projekte bisher immer aufgrund eines konkreten Bedarfs und den Bedürfnissen der beteiligten Menschen realisiert haben, und dies auch in Zukunft anstreben. Das bedeutet natürlich, dass bereits bei der Projektentwicklung zukünftige BewohnerInnen eingebunden werden müssen, was auf der einen Seite zu Beginn des Projekts einen wesentlich höheren Aufwand mit sich bringt, langfristig allerdings eine extrem hohe Identifikation der BewohnerInnen mit ihrem Projekt bewirkt. Folgewirkung: Es gibt praktisch keine Leerstände, keine Fluktuation und schon gar nicht Phänomene wie Vandalismus usw. Die sogenannten Gemeinschaftseinrichtungen, die heute ja glücklicherweise auch bei konventionellen Projekten realisiert werden (müssen), stellen bei uns aber nicht nur schmuckes Beiwerk oder einen Marketing-Gag dar, sondern sind das Zentrum der Konzeption jedes gemeinschaftlich orientierten Wohnprojekts. Auch streben wir nach wie vor ökonomisch kollektive Modelle an und stehen damit im Gegensatz zur Bauwirtschaft.
dérive: Wie geht es Euch damit, dass das »Label«, das Ihr aufgebaut habt, nun bereits anderweitig – und auch für andere Zwecke – verwendet wird? In einer der letzten Ausgaben von werk, bauen + wohnen ist ein Gewerbezentrum vorgestellt worden – das IP.ONE –, das ein kommerzielles Projekt ist. Dabei ist eine Art Klon der MISS Sargfabrik entstanden. Die AutorInnen sprechen in jenem Artikel daher auch von »Brandsharing«, davon, dass jemand die als alternativ geltende »Marke« Sargfabrik für das eigene Image nutzt. Habt ihr eine Problem damit, wenn Euer Rezept abgeschaut und die Architektur kopiert wird?
Ute Fragner: Architektur kann Ausdruck bestimmter Bedürfnisse oder Rahmenbedingungen sein. Sie kann in einer gewissen Weise förderlich oder hinderlich für bestimmte Entwicklungen sein. Aber dies kann nicht das Leben und die Dynamik innerhalb ersetzen. Übrigens würde ich mich nicht schrecken, wenn etwas 1:1 kopiert werden würde. Ich denke, bestimmte bauliche Maßnahmen ermöglichen bestimmte Lebensbedingungen – warum sollten diese Erfahrungen nicht auch andere nutzen wollen, ... aber es ersetzt nicht das Leben hier und die Auseinandersetzung damit. Es muss sich jeder mit dem auseinandersetzen, was er mietet, was er kauft, was er nutzt. Die Architektur kann ein vordergründiges Zuckerl oder ein Aufsehen erregendes Werbeding sein, aber die Auseinandersetzung damit kann nicht ersetzt werden.
Rainer Tietel: Selbst wenn sich Bauträger hier etwas abschauen und in manchen Qualitäten der Sargfabrik nahe kommen, kann es nur positiv für die zukünftigen BewohnerInnen dort sein. Wohnbauten können noch um vieles besser werden.
Roland Tusch
Udo W. Häberlin studierte Stadt- und Raumplanung u. a. bei Detlef Ipsen, Ulla Terlinden und Lucius Burckhardt in Kassel. Er arbeitet bei der Stadt Wien, Abteilung Stadtplanung und -entwicklung.