Blinder Fleck Nordwestbahnhof. Biographie eines innenstadtnahen Bahnhofsareals
Der Wiener Nordwestbahnhof wurde am 1. Juni 1872 als letzter der großen Kopfbahnhöfe in Wien errichtet, ursprünglich, um die deutschsprachigen nordböhmischen Industrieregionen mit Wien und in der Folge auch Wien mit Berlin und den Nordseehäfen zu verbinden. Zwar wurde der Personenverkehr bereits im Jahr 1959 endgültig eingestellt, im Gegensatz zu anderen Wiener Bahnhöfen konnte der Nordwestbahnhof seine Funktion als innenstadtnaher Umschlagplatz für den nationalen und transnationalen Güterverkehr aber bis zuletzt erhalten: Noch bis zum Jahresende 2016 wurden hier Überseecontainer umgeschlagen. Trotz seiner Funktion und Größe scheint der Bahnhof bei den Wiener:innen jedoch völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Parallel zur jahrzehntelangen Abschottung als Güterbahnhof wurden sowohl Innovationen im Speditionswesen als auch bedeutende historische Ereignisse am Areal in den Hintergrund gedrängt. Erst in den allerletzten Jahren des Umbruchs, mit dem Herannahen des Ablaufdatums, öffnete sich das Areal langsam seiner Nachbarschaft. Das Wissen über seine Geschichte(n) blieb – bis auf die Initiative des Museums Nordwestbahnhof – aber weiterhin weitgehend verborgen. Insgesamt stand der Nordwestbahnhof auch im Schatten des nahegelegenen, größeren und im Stadtbild präsenteren Nordbahnhofs, bisweilen wird er auch mit diesem verwechselt.
Ausgerechnet 2022, im Jubiläumsjahr seines 150-jährigen Bestandes, hat der Nordwestbahnhof seine endgültige Stilllegung erfahren und wird in naher Zukunft einem neuen Stadtentwicklungsgebiet mit rund 15.000 neuen Bewohner:innen und etwa 5.000 Arbeitsplätzen weichen müssen.
Das Buch versteht sich demnach als Erinnerungsarbeit zum Wiener Nordwestbahnhof und zu seinen wesentlichen Bedeutungen: einerseits als Knotenpunkt eines übergeordneten Transport-Netzwerkes und dessen Wechselwirkungen mit der Stadt – und andererseits als Mikrokosmos sich wandelnder Arbeits- und Lebensräume für eine Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft.
In vier chronologischen Kapiteln und vier thematischen Essays werden unterschiedliche verdrängte Schichten, die bauliche Transformation und soziale Überformungen „freigelegt“: Von den Fischpopulationen, die in den 1860er-Jahren während der Aufschüttungen der Donauregulierung und des Bahnhofsbaus dem Industrialisierungsschub und Spekulation zum Opfer fielen über die Zwischennutzungen der Zwischenkriegszeit, zu denen auch die NS-Propagandaausstellung „Der ewige Jude“ von 1938 zählte, führt der Bogen zu „Arisierungen“, Kriegsmaschinerie und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, zu sowjetischer Besatzung und Wiederaufbau, den Boom-Jahren während des Kalten Krieges bis hin zu seinem aktuellen schrittweisen Rückbau. Das Buch schließt mit dem Museum Nordwestbahnhof, unserem eigenen Engagement, das auch als Legitimation und Ausgangspunkt einer leisen, mittelfristig angelegten Raumaneignung dient, die im Idealfall über die Abbruch- und Bauphase hinaus Bestand hat.