» Texte / Erinnerungsarbeit zum Wiener Nordwestbahnhof

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Wien verfügte einst über sechs Kopfbahnhöfe. Einer nach dem anderen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten verschwunden oder wurde durch einen Durchgangsbahnhof ersetzt. Jene, die noch existieren – wie der Wiener Westbahnhof –, haben stark an Bedeutung verloren. Der Nordwestbahnhof, der in der Wahrnehmung der Wiener:innen wohl aufgrund des vor langer Zeit eingestellten Personenverkehrs nur wenig präsent war, zeigte »entgegen den urbanistischen, ökonomischen und verkehrsplanerischen Trends der jeweiligen Epochen … eine hartnäckige Resilienz«. Michael Hieslmair und Michael Zinganel, gemeinsam mit dem Historiker Bernhard Hachleitner Autoren des vorliegenden Buches und, wie hier nicht verschwiegen werden soll, immer wieder auch Autoren von dérive und Freunde der Redaktion, haben sich 2015 für ihr Forschungsprojekt Stop and Go – Nodes of Transformation and Transition (siehe dérive 63, 2/2016) im Nordwestbahnhof einquartiert und sind dort bis heute geblieben.
        Der Nordwestbahnhof wurde als letzter der Wiener Kopfbahnhöfe unweit des älteren Nordbahnhofs seiner Bestimmung übergeben. Initiiert wurde der Bau der Nordwestbahnstrecke von einem Konsortium nordböhmischer Unternehmen vorrangig aus der Zuckerindustrie. Der Standort des Bahnhofs befand sich auf dem trockengelegten Areal eines ehemaligen Donauarms und lässt sich somit »als Teil eines weitreichenden Stadtentwicklungsprojektes im Zuge der Donauregulierung lesen«. Bereits wenige Jahre nach seiner Eröffnung meldeten sich erste kritische Stimmen, die forderten, den »ganz überflüssigen Nordwestbahnhof« wegen seiner »enormen Länge und Ausdehnung«, die »eine förmliche Absperrung der künftigen Donaustadt« bildet, aufzulassen. 
Tatsächlich allerdings erfüllte der Nordwestbahnhof für den Import von Gütern aus den deutschen Seehäfen Hamburg und Bremerhaven bald eine wichtige Funktion, die mit der Etablierung als wichtiger Standort für das Speditionswesen einherging. In diesem Zusammenhang ist der wechselvollen Geschichte der Spedition Schenker im Buch ebenso ein eigener Abschnitt gewidmet wie der Firma Nordsee, die bereits ab 1899 am Nordbahnhof eine Dependance betrieb und ihre Ware auf den Wiener Märkten verkaufte. Das Ende der Monarchie bedeutete für den Nordwestbahnhof einen folgenschweren Einschnitt, der mit einem Bedeutungsverlust vor allem für den Personenverkehr einherging, der 1924 erstmals eingestellt wurde. Die große Bahnhofshalle stand deswegen fortan leer und erfuhr allerlei prominente Zwischennutzungen. Sie diente (wenig erfolgreich) als ›Schneepalast‹ inkl. Skipiste und Sprungschanze und war Drehort für die Verfilmung von Hugo Bettauers Roman Die Stadt ohne Juden. 
Im Austrofaschismus und später im Nationalsozialismus fungierten für den Bahnbetrieb ungenutzte Hallen als Räume für 
politische Massenveranstaltungen. Ein wichtiges Kapitel des Buches widmet sich der nationalsozialistischen Ausstellung 
Der ewige Jude, die 1938 im Nordwestbahnhof zu sehen war und »als Aufruf zur Vernichtung« inszeniert war. Ein besonders ernüchterndes Detail dieser Perfidie ist, dass der hinzugekommene Wien-Teil der aus München übernommenen Propagandaschau von zwei ehemaligen Mitarbeitern des von Otto Neurath 1924 im Roten Wien gegründeten Österreichischen Instituts für Bildstatistik gestaltet wurde. 1946 waren sie an der Gestaltung der antifaschistischen Ausstellung Niemals vergessen! beteiligt.
        Der Nordwestbahnhof wurde von den Nazis zwar höchstwahrscheinlich nicht für die Deportation von Jüdinnen und Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager genutzt, war aber ansonsten umfassend in das nationalsozialistische System eingebunden. Am Bahnhof ansässige jüdische Firmen wurden arisiert, die Beute der Raubzüge durch die Wohnungen der jüdischen Bevölkerung lagerten dort und wurde an ›bedürftige Volksgenossen‹ verteilt. Er diente als Standort für Verpflegungsmagazine der Wehrmacht ebenso wie als Einsatzort für Zwangsarbeiter:innen. Der Materialtransport für den Bau der Flaktürme im benachbarten Augarten führte vom Nordwestbahnhof über ein eigens errichtetes Anschlussgleis zur Baustelle. In den letzten Kriegsmonaten wurde der Bahnhof durch alliierte Bombenangriffe schwer beschädigt und teilweise zerstört.
        1959 wurde der Personenverkehr, der in den ersten Nachkriegsjahren notdürftig aufrechterhalten worden ist, ein weiteres Mal eingestellt – diesmal endgültig. Damals nahm der nahegelegene Bahnhof Praterstern, der den zerstörten Nordbahnhof ersetzte, seinen Betrieb auf. Stadtplanungsexpert:innen sahen sich dadurch veranlasst, den Nordwestbahnhof grundsätzlich in Frage zu stellen. Doch obwohl die Wiederherstellung des Bahnhofs für den Güterverkehr aufgrund von Material- und Kapitalmangel zunächst nur zögerlich vor sich ging und gänzlich neue Hallen erst in den 1960er Jahren errichtet wurden, erwies er sich als innenstadtnaher Logistikknoten erstaunlich resilient. Dagegen konnte auch »die zunehmende Verlagerung der Transportkapazitäten von der Bahn auf Lkw und Busse« nichts ausrichten. »Die besten Jahre … hat der Güterterminal von den 1970er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre erfahren, als Österreich von den verspäteten Modernisierungsschüben im Osten Europas, im Nahen und Mittleren Osten besonders profitierte.« Dies hatte nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Österreich seine 
Neutralität ausnutzend über »Exklusivverträge mit staatlichen Speditionen aus den kommunistischen Ländern« verfügte. Das Know-how, das sich die Spediteur:innen in diesem Geschäft angeeignet hatten und das ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschaffte, verlor seinen Wert mit dem EU-Beitritt Österreichs und vor allem mit der EU-Osterweiterung. Hinzu kam die »Auslagerung von Produktion und Warenumschlag in die neuen Billiglohngebiete Osteuropas«. Investitionen am Nordwestbahnhof schienen betriebswirtschaftlich nicht mehr sinnvoll. Die Weichen wurden neu gestellt, der lange »Niedergang des Knotens Nordwestbahnhof begann«.
        Die Jahre ab 2014/15 waren durch Zwischennutzungen geprägt, denen die Autoren besondere Aufmerksamkeit widmen. Zinganel und Hieslmair waren und sind selbst Teil davon und haben über die Jahre viele persönliche Kontakte geknüpft.
        Konkrete Planungen für die Zukunft des Bahnhofgeländes starteten mit einem städtebaulichen Wettbewerb 2008 »mit dem Ziel, ein Leitbild für die Neubebauung des 44 Hektar großen Bahnhofareals zu erhalten«. Tausende neue Wohnungen und Arbeitsplätze, Schulen, Sportanlagen und eine vom Kfz-Durchzugsverkehr freibleibende ›Grüne Mitte‹ sollen entstehen.
        Im abschließenden Kapitel Excavations of Lost Memories – Künstlerische Ausgrabungsarbeiten am Wiener Nordwestbahnhof werfen Hieslmair und Zinganel einen Blick zurück auf die eigene Geschichte und die vielen großartigen Aktivitäten und Projekte am Nordwestbahnhof, zu denen mittlerweile sogar ein eigenes Museum zählt.
Blinder Fleck Nordwestbahnhof besticht nicht nur durch umfangreiche Recherchen, die vielfältigen Perspektiven auf seinen Gegenstand und aufschlussreiche Exkurse, sondern auch durch zahlreiche historische Fotos und Dokumente sowie eigene (Plan-)Zeichnungen und eine gelungene Gestaltung. Ein lesenswertes und lehrreiches Buch Stadtgeschichte.


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