1968 und die urbane Frage
Erstaunlicherweise fanden die urbanen Wurzeln der 68er-Bewegung bei den Retrospektiven des fünfzigjährigen Jubiläums kaum Beachtung. Dabei spielten damals Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen, Kampagnen gegen die kapitalistische Sanierungspolitik und die weit verbreitete Praxis der Hausbesetzungen eine wichtige Rolle. Der Kampf für eine andere Stadt war zentraler Bestandteil der sozialen Auseinandersetzungen. Wenn in der wissenschaftlichen Literatur die urbane Dimension von 1968 verhandelt wird, geht es vornehmlich um die krisenhaften Symptome des fordistischen Vergesell- schaftungsmodells und den damit verbundenen Stadtkonzepten. Indes hat die Kritik am modernen Urbanismus eine lange Vorgeschichte. Man denke nur an die Architektur- Polemik der Situationisten, die als wichtige StichwortgeberInnen der späteren Protestbe- wegung gelten. Doch erst im Gefolge der 68er-Revolte kann sich der Diskurs über die »urbane Frage« (Manuel Castells) gesellschaftlich verbreitern. Auf jeden Fall ist es unzulässig, 1968 auf ein einziges Jahr zu begrenzen, das angeblich alles verändert hat. Vielmehr muss man von einem lang anhaltenden Jahrzehnt der Revolte sprechen.
Klaus Ronneberger, Stadtsoziologe, Schwerpunkt Stadt- und Raumplanung, Frankfurt