Architektur als soziale Praxis. Das »Vorarlberger Architekturwunder« soziologisch erklärt
Besprechung von »Architektur als soziale Praxis. Akteure zeitgenössischer Baukulturen: Das Beispiel Vorarlberg« von Günther PrechterBekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll sie denn sonst sein), im Feld der Architektur liegt dies anders. Hier kann man mit einer solchen Aussage noch Stellung beziehen. Vor allem lässt sie die Erwartung entstehen, dass nicht das (ästhetische) Objekt im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, sondern der gesellschaftliche Rahmen – also die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens, des Gebrauchs und der Rezeption von Architektur. Dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Architektur nicht nur abbilden, sondern sich Architektur auch gesellschaftlich auswirkt – das ist ein Stehsatz, mit dem heute in der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Stadtforschung und auch in der neueren Architektursoziologie das Verständnis von Architektur als sozialer Praxis untermauert wird.
Günther Prechter, der sich mit seiner akteurszentrierten Studie über das gegenwärtige Bauwesen in Vorarlberg diesem Forschungskontext und seiner analytischen Grundausrichtung einschreibt, gelingt mit dem prägnanten Titel seiner Arbeit eine Verdichtung. Er rammt einen Pflock ein: Hier befinden wir uns nicht im feldinternen Legitimierungsdiskurs! Hier wird in anderer Weise über Architektur gesprochen! Hier wird nicht das Ding selbst, sondern das Soziale zum Gegenstand gemacht! Mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann im Gepäck weiß er, dass es sich bei Architektur um eine »gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit« handelt, die sich in ihrer Entstehung, ihren Wirkungsweisen und in ihrer Konfrontation mit konfligierenden Wirklichkeiten systematisch beschreiben lässt. Vertraut mit der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, hat er eine Vorstellung von Architektur als Mittel gesellschaftlicher Distinktion und als wertverwaltende, nicht ohne den Staat zu denkende Institution entwickelt. Bourdieus (Individuum und Gesellschaft zusammenbringendes) Habituskonzept ist es auch, das ihn nicht nur die berufsspezifischen Dispositionen als stillschweigende kollektive Wissensdimension erkennen lässt, sondern ihn auch nach »habituellem Architekturwissen« von Laien, nach Architektur als Alltagswissensbestand fragen lässt. Und schließlich ist ihm mit Ralf Bohnsacks Dokumentarischer Methode der Interpretation ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihm bei der Auswertung seiner Daten – Interviews mit PlanerInnen, BauherrInnen, gewerblichen BauträgerInnen, HandwerkerInnen und BehördenvertreterInnen – auch die eigene Forschungspraxis reflektieren lässt.
Bevor die ethnographische Arbeit im Hauptteil ausgebreitet wird, unternimmt der Autor in zwei vorangehenden, mit Architektur? und Vorarlberg überschriebenen Kapiteln zunächst den Versuch, Architektur (als Profession, Institution und gleichermaßen sozial hierarchisiertes wie hierarchisierendes Kulturprodukt /»Hochkultur«) in ihrer historischen Gewordenheit bzw. gesellschaftlichen Gemachtheit darzustellen. An einem zeitgenössischen Fallbeispiel von »Architektur als Kunst« (Supermarkt) wird auch die Frage der Zugänglichkeit von Architektur, die schichtspezifische Dimension ihres Erkennens und Anerkennens als Kunstform behandelt. Es folgt eine kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einführung in drei – was das Eindringen von Architektur betrifft – sehr unterschiedlich geprägte Gebiete Vorarlbergs (Montafon, Bregenzerwald, Rheintal). Im Anschluss werden die »Vorarlberger Baukünstler« und das »Vorarlberger Architekturwunder« als Produkt einer von feldinternen InterpretInnen geleisteten Kanonisierungs- und Historisierungsarbeit rekonstruiert.
Der Hauptteil gliedert sich in vier mit den Titeln Holz, Haus, Dorf und Handwerk überschriebene Kapitel. Die Überschriften mögen frugal anmuten, der Inhalt ist es nicht. Im Kapitel Holz gewinnen der Leser und die Leserin einen Eindruck, welche verantwortungsvolle Rolle PlanerInnen bei der Baustoffwahl zuwächst, wie sie mit Verwendung lokaler Produkte bewusst die Marktgesetze eines globalisierten Rohstoffmarktes außer Kraft setzen und einen Beitrag zur Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens leisten können (oder bei üblichem Materialbezug aus dem Holzgroßhandel eben nicht). Prechter widmet sich speziell jenem gesellschaftlichen Umwertungsprozess, der infolge des demonstrativen Einsatzes von Holz im architektonischen Kontext und seiner Verwissenschaftlichung (Holzbauforschung) aus dem armen, ehemals für mindere Bauaufgaben zum Einsatz gebrachten Baustoff eine kostbare, weil auch für die Region identitätsstiftende Ressource gemacht hat. Wo die Beziehung von Architektur und Handwerk auf der Ebene von Baupraxis und Baustelle untersucht wird, werden nicht nur Differenzen hervorgehoben – etwa das (ästhetische) Bildwissen der ArchitektInnen, das dem material-gestützten Verarbeitungswissen des Zimmermanns gegenübersteht –, sondern auch Transformationen, die sich (vor allem für das Bauhandwerk) aus der Kollaboration der konkurrierenden ExpertInnengruppen und der technischen Modernisierung ergeben.
Im Zentrum des Kapitels Haus steht der Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung des ArchitektInnen-Hauses im ländlichen Raum, sein Weg vom singulären Fremdkörper mit sozialer Sprengkraft zum dörflichen, allgemein-anerkannten »Normalfall«. Interessant ist hier der Fall eines im Bau befindlichen Holzhauses, für den die lokale Baubehörde aus ästhetischen Gründen den Abbruchbescheid ausstellt, die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs aber den Bauherrenpreis vergibt. Während die Bauherren bei der Sonntagsmesse nicht mehr gegrüßt werden, treffen laufend Reisebusse mit ArchitekturtouristInnen zur Besichtigung des Bauwerks ein. Der von außen aufgezeigte Wert wirkt auf das lokale Milieu der Dorfgemeinde zurück, stellt den lokalen Bauausschuss infrage, der schließlich abgeschafft und durch einen Gestaltungsbeirat ersetzt wird.
Der essentielle Aspekt der Beziehung zwischen Staat und Architektur wird im Kapitel Dorf eingehend untersucht. So zeigt die Analyse der Vorarlberger Baugenehmigungspraxis, wie die Befürwortung zeitgenössischer Architektur seit den 1980er Jahren von den oberen in die unteren Instanzen der Baubehörde durchgesickert ist und mit der Etablierung der Gestaltungsbeiräte (in ca. 1/3 der Vorarlberger Kommunen) ein Governance-Modell Platz gegriffen hat, das der Architektenschaft das Privileg einräumt, in Baugenehmigungsverfahren direkt Einfluss auszuüben.
Auch wenn Prechter nicht darin zuzustimmen ist, dass »Ästhetisierung gegenseitige Abwendung und gesellschaftliche Vereinzelung bewirkt« und seine These von der Architektur als »Ersatzreligion« etwas platt anmutet (Architektur ist freilich, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend, dabei aber weniger ideologisch belastet und deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie), stellt seine vielschichtige Studie einen Beitrag zur Analyse der spätmodernen Gesellschaft als einer ästhetisierten dar. Die wesentlichen Bedingungen der Ästhetisierung identifiziert der Autor im Anwachsen der akademisch gebildeten Schicht auf dem Land als Trägerschicht, in der Einrichtung von Gestaltungsbeiräten und der wirtschaftspolitischen Indienstnahme von Architektur als Leitkultur zwecks Standortmarketing. Allerdings vergisst Prechter, dass auch die wachsende Zahl von Abgängern an den Architekturschulen zusammen mit der zunehmenden Mediatisierung von Architektur (z. B. in populären Fernsehsendungen) die Möglichkeit der Durchsetzung von Architektur im ländlichen Raum wesentlich bedingt. Wobei das feststellbare Mehr an Architektur nicht einfach nur Produkt von Demokratisierung ist, sondern zugleich auch Produkt eines Kulturimperativs, der sich mit den besitzindividualistischen Motiven der modernen Marktgesellschaft und dem hochgradig kulturalisierten Politikmodell eines Europa der Regionen aufs Harmonischste vereint.
Alles in allem stellt Prechters empirische Studie einen beachtenswerten Beitrag zur neueren Architektursoziologie dar. Nicht zuletzt deshalb, weil sie der gegenwärtig dominanten Stadtforschung eine Auseinandersetzung mit dem Dorf entgegenhält. Als freiberuflich in Vorarlberg lebender Architekt hat es der Autor geschafft, die für sozialwissenschaftliche Forschung notwendige Distanz aufrecht zu halten und die intime Kenntnis architektonischer Praxis (die dem professionellen Soziologen in der Regel verwehrt bleibt) für die Forschung zu nutzen. Vor seinem biografischen Hintergrund ist die Arbeit ein Akt der Selbstvergewisserung. Er hat sich nicht nur die Eigenheiten des eigenen Stammes, die Funktionsweise der Institution, die er selber bewohnt, sondern vor allem das eigene Tun, die architektonische Praxis im ländlich-dörflichen Umfeld etwas durchsichtiger gemacht. Sein Buch ist deshalb nicht nur ArchitektInnen, sondern auch all jenen zu empfehlen, die sich für Architektur auf dem Lande interessieren und stark machen. Kein Architekt, keine Architekturvermittlerin wird nach ernsthafter Lektüre je wieder naiv an die Arbeit gehen. Es sei jedoch auch angemerkt, dass es dafür ein gewisses Durchhaltevermögen braucht. Die überarbeitete, im Böhlau-Verlag nun gedruckt vorliegende Dissertation leidet mit ihren fast 500 Seiten ein wenig unter Akkumulitis. Man möchte dem Autor den Rat geben, vor das Kruzifix im Herrgottswinkel eines Bregenzerwälder Bauernhauses zu treten. Das war einmal ein Holzscheit, und man kann sehen, was es heißt: abtragen, wegnehmen, das Wesentliche herausbringen.
Anita Aigner ist Assistenzprofessorin an der TU Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Architektursoziologie.