Patricia Deiser


Kairo ist, mit über 20 Millionen EinwohnerInnen und einem täglichen Pendlerzuzug von über 2,5 Millionen Menschen, Afrikas größte Metropole und die größte Stadt der arabischen Welt. In Kairo zu leben heißt in der Enge leben: Die Bevölkerungsdichte ist seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von knapp 7000 auf teilweise bis zu 135 000 Menschen pro Quadratkilometer angewachsen.Der Lärm des Verkehrs brandet unermüdlich, Tag und Nacht, durch die Stadt, die Wege führen auf mehrspurigen Fahrbahnen, über Hochstraßen vorbei an Minaretten und Wolkenkratzern, schlängeln sich durch enge Gassen und weiter mit der U-Bahn – übrigens der einzigen des afrikanischen Kontinents – unter die Erde. Die Infrastruktur kann mit dem rapiden Bevölkerungswachstum kaum mithalten, Kanalisation, Wasser- und Stromversorgung, Kommunikationsverbindungen sind in desolatem Zustand – eine Stadt immer kurz vor dem Kollaps.

Hala Elkoussy wurde 1974 in Kairo geboren und die Hauptstadt Ägyptens, zweitgrößte Megalopolis der Erde nach Mexico City, bildet auch das geographische und thematische Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit. Ausgangspunkt ihrer Fotografien und Videoarbeiten sind die Beziehungen zwischen Menschen und dem sie umgebenden, in ständiger Veränderung befindlichen sozialen Umfeld. Dabei untersucht sie die Komplexität städtischer Strukturen und deren Wirkungsmöglichkeiten auf BewohnerInnen und Identitäten. Im Rahmen des Projekts Peripheral, das von 2. April bis 14. Mai 2006 im Stedelijk Museum Bureau in Amsterdam zu sehen war, beschäftigt sich Elkoussy mit dem komplexen und metaphorisch aufgeladenen Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Im 28-minütigen Videoessay Peripheral Stories (2005) erzählt die Künstlerin 25 Geschichten, die sich im urbanen Grenzland, an geographischen, ökonomischen, sozialen und moralischen Randzonen bewegen. Unterwegs in einem Kleinbus fängt Elkoussy Bilder der Suburbs von Kairo ein;, Betonwüsten, riesige, unbewohnte Wohnblocks, anonyme Appartementhäuser, dazwischen vereinzelt Menschen. Ein Läufer bewegt sich am Rande einer Siedlung; eine alte Frau, in einem Lehnstuhl sitzend, strickt einen rosafarbenen Schal, scheinbar unendlich; ein Mädchen, das Stapel von Kleidern aus Kästen und Regalen reißt; ein Frauenchor; ein Junge, der applaudiert. Traumgleiche Bilder, ein Kaleidoskop an Erzählungen, Charakteren, Szenerien zieht am Wagenfenster vorbei. Der Kleinbus, der in Kairo Menschen aller Klassen und Lebensstile billig über kurze wie lange Strecken transportiert, wird im Video zum Symbol der unaufhörlichen Bewegung zwischen innen und außen, Individuum und Masse, arm und reich und illustriert gleichzeitig die Nähe, in der diese Extreme existieren. Simultan zu den Bildern tauchen Texte (in Form von Untertiteln), Stimmen, Musik und Hintergrundgeräusche auf: Medienberichte, Werbebotschaften, Statistiken, Interviews mit unterschiedlichen BewohnerInnen der Stadt verschmelzen zu einer Audio- und Textcollage, die nicht mit der Poesie des visuellen Materials korrespondiert, vielmehr mit Realität(en) des suburbanen Alltags konfrontiert. Die strukturelle Dichte des Videos bildet einen Kontrast zur Spärlichkeit der ebenfalls in der Ausstellung präsentierten Fotografien. Peripheral Landscapes (2004) zeigen isolierte, halbfertige Siedlungskomplexe, Notunterkünfte und Villen im Großformat, aufgenommen an den Rändern der Metropole, am Übergang von Stadt zu Land. Die Bilder erinnern an die Fotografien suburbaner Räume von Dan Graham oder Jeff Wall. Doch Elkoussy fängt ihre Motive in ein spezielles Licht getaucht ein, vor eindrucksvollen Wolkenformationen am Horizont – seltene Momente am ansonsten dunstigen Himmel über Kairo. Damit stellt sie ihre fotografischen Arbeiten mehr noch in die Tradition der romantischen Landschaftsmalerei. Im Unterschied zur schnellen Bildfolge des Films, dem zurückbleibenden Gefühl der Desorientierung, ausgelöst durch die Vielfalt an Geschichten ohne Anfang und Ende, die Fülle an Sprachen, Referenzen und möglichen Lesarten, bietet die Stille der Peripheral Landscapes Momente der Kontemplation.

Die Peripherie von Kairo ist ein sich ständig verändernder, wachsender Organismus. Den Aspekt der Bewegung, der Dynamik in Folge von Migration, Landflucht und Bevölkerungswachstum fängt Elkoussy in ihren Arbeiten auf unterschiedliche Art und Weise ein. Sie zeigt darin nicht nur die Topographie einer Stadt(-Landschaft), sondern wirft auch Fragen nach Möglichkeiten der Narration und Abbildbarkeit auf und lotet die Grenzen von Begriffen wie Realität und Illusion aus. Auch das Thema Begehren spielt eine wichtige Rolle, nicht nur in der neuen, fotografischen Installation Maqaam Al-Sayyid Al-Moski (Schrein von St. Moski, 2006), in der Elkoussy Objekte porträtiert, die auf den Märkten und Bazaren von Kairo verkauft werden – billiger, glitzernder, anziehender Tand. Das Begehren hat auch in der Peripherie, im Film, in den Peripheral Stories seinen Platz, und sei es nur in Form des Wunsches nach Veränderung. Die Peripherie wird damit in Hala Elkoussys Arbeit auch zu einer Utopie, zur Chiffre für einen Ort des Begehrens nach Transformation.

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Ausstellung
Hala Elkoussy
Peripheral (and other stories)
Stedelijk Museum Bureau Amsterdam
2.April bis 14. Mai 2006

Der Titel der Besprechungbezieht sich auf ein Zitat aus Hala Elkoussys Video Peripheral Stories (2005, Digital Video, 28 min.).


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