Bourdieu für Architekten
Besprechung von »Bourdieu for Architects. Thinkers for Architects 05« von Helena WebsterHelena Webster, Vizedekanin an der Architekturfakultät der Oxford Brookes University, hat ein Buch geschrieben, das ArchitektInnen und Architekturstudierende in das Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) einführen soll. So erfreulich es ist, dass die Schriften Bourdieus nun im Feld der Architektur eine verstärkte Rezeption erfahren, so schwierig und problematisch ist dieses Unternehmen jedoch auch. Den Umfang, die inhaltliche Breite und Komplexität seiner Schriften vor Augen hat Loïc Wacquant einmal angemerkt, dass es wahrscheinlich unmöglich ist, in das Denken Bourdieus einzuführen.[1] Helena Webster hat sich dieser »unmöglichen« Aufgabe gestellt und ihre Sache gut gemacht. Wenngleich ihre Einführung (was nicht zuletzt auch an der Text-Gattung selbst liegt) schnell an die Grenzen einer »echten« Übersetzung stößt.
Zunächst jedoch ein kurzer Blick auf den »Rahmen«, die Einbettung der Bourdieu-Einführung in die vom englischen Routledge-Verlag herausgegebene Buchreihe. Wie bereits unschwer auf dem Umschlag zu erkennen, hat man es mit der Nummer 5 der Reihe »Thinkers for Architects« tun. Damit ist bereits vor jeder Lektüre klar: Bourdieu wird uns hier als »Meisterdenker« vorgeführt. Zusammen mit Martin Heidegger, Walter Benjamin, Maurice Merlau-Ponty, Homi K. Bhabha, Jaques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari. Lediglich eine weibliche Autorin, die feministische Psychoanal»geschafft«. Herr im Haus der Meisterdenker für Architekten ist – vielleicht doch nicht ganz zufällig – ein Mann: Adam Sharr, Lehrer an der Welsh School of Architecture der britischen Cardiff University und auch ausübender Architekt, der mit »Heidegger for Architects« im Jahr 2007 gleich selbst den Grundstein für seine, wie er (auf seiner Website) selbst sagt, »best-selling book series« geliefert hat. Erstaunlich wie problematisch dabei nun ist, dass Sharr ganz unbefangen, ja unschuldig-naiv einen Kanon architekturrelevanter Geistesgrößen konstruiert, also mit keinem Wort sein eigenes Ordnungsdenken reflektiert (was als Indiz dafür zu nehmen ist, dass die Lektüre manch vorgestellter Schlüsselautoren kaum Spuren hinterlassen hat).
»Architekten haben«, so der Herausgeber in seinem Vorwort, »immer schon nach Philosophen und Theoretikern zur Inspiration für ihre gestalterische Arbeit oder Suche nach einem kritischen Bezugsrahmen für die Praxis Ausschau gehalten.« Weshalb es für ihn nur naheliegend ist, jene feldexternen »key thinkers«, »die über Architektur geschrieben« oder »deren Schriften Architekten, Kritiker und Kommentatoren maßgeblich beeinflusst haben«, einmal in einer Serie von akkuraten, also knapp wie klar formulierten Einführungen zu präsentieren.
Man mag nun an der Konzeption der Reihe bemängeln, dass hier von großen Namen, vornehmlich »großen Männern« ausgehend gedacht worden ist – was, nebenbei bemerkt, ganz der Logik im architektonischen Feld entspricht, wo werk- und autorbasierte Besprechungen vorherrschend sind. Auch könnte dem Herausgeber vorgeworfen werden, dass sich ihm die Frage, wie »Theorie« für ArchitekInnen »praktisch« werden, ja womöglich sogar emanzipativ wirksam werden kann, erst gar nicht stellt. Doch weder der schale Beigeschmack, dass man es hier mit einem auf Absatz schielenden Produkt des Buchmarktes zu tun hat (man darf auf weitere Reihen, etwa »Denker für Mediziner« oder »Denker für Politiker« gespannt sein, oder auf einen »Bourdieu für Künstler«, Ingenieure oder Juristen), noch die Befürchtung, dass hier »große Theorie« auf ein leicht konsumierbares (Halb-)Wissen für ArchitektInnen zusammengestutzt wird, sollten dazu führen, das Einführungs-Unternehmen als solches zu diskreditieren.
Im Gegenteil: Einführungen zu verfassen, ob nun in bestimmte Themen oder das Œuvre von »Riesen der Wissenschaft«, stellt eine gleichermaßen verdienst- wie verantwortungsvolle Aufgabe dar. Verdienstvoll, weil sich hier (im günstigen Fall) beschlagene Spezialisten die Mühe machen, Personen, die nicht eingeweiht, nicht mit einschlägiger Fachkenntnis (dafür aber mit Neugierde) ausgestattet sind, eine Sache verständlich zu machen. Verantwortungsvoll, weil die Neugierde nicht erstickt, die Interessierten nicht durch akademische Gelehrsamkeit eingeschüchtert, sondern zu reflexiven Einsichten und eigenständigem Weiterarbeiten mit »Theorie« angeregt werden sollen.
Im Vergleich zu den mittlerweile zahlreich vorliegenden Bourdieu-Einführungen, die mal besser ausfallen, wenn sie die innere Logik und Offenheit seiner theoretischen Konzepte aufzeigen, mal schlechter, wenn sie schulbuchmäßig vermeintlich abgeschlossene Grundbegriffe von Bourdieus Kulturtheorie (Habitus, Feld, Kapital etc.) aneinanderreihen,[2] handelt es sich hier nun um eine Einführung, die einen besonderen Zuschnitt verspricht. Mit Helena Webster, die selbst dem architektonischen Feld entstammt und sich in ihrer eigenen Forschung auch selbstreflexiv mit dem eigenen Umfeld auseinandersetzt – sie hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Lehr- und Lernkultur an Architekturschulen beschäftigt[3] –, ist dem Vorhaben bereits eine einschlägige Brauchbarkeitsperspektive eingeschrieben. Sie hat nicht nur eine konkrete Vorstellung davon, warum Bourdieu von Architekten gelesen werden soll – ihrer Meinung nach könnte Bourdieu ArchitektInnen, die aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Sozialisation die Welt durch eine »architektonische Linse« sehen und infolgedessen zu Intoleranz gegenüber Laien und Menschen mit anderen Geschmacksvorstellungen neigen, dabei helfen, die eigenen Wert- und Handlungsmuster wie auch die eigene Rolle als ArchitektIn (innerhalb der Community wie der Gesellschaft) zu reflektieren. Sie hat auch eine klare Vorstellung davon, welche der zahlreichen und thematisch breit gestreuten Schriften Bourdieus (er hat über 40 Bücher und mehr als zweihundert Aufsätze geschrieben) für ArchitektInnen von Relevanz sind.
Verkürzt gesprochen erfolgt der Zugang zum Kultursoziologen Bourdieu. Es sind seine Kultur- und Gesellschaftsanalysen, seine Theorien und Befunde zu Kultur und sozialer Ungleichheit, die Webster als Anknüpfungspunkt dienen. Der Bildungssoziologe Bourdieu wird gestreift, seine Untersuchungen zu Staat, Politik, Recht, Sport und Sprache, seine wissenschaftssoziologischen Beiträge wie auch seine Soziologie der Intellektuellen bleiben ausgeklammert. Es ist Webster zu danken, dass sie von einer Gliederung nach »zentralen Begriffen« absieht und Bourdieus wissenschaftliches Begriffsinstrumentarium, das bereits vielfach zum Gegenstand scholastischer Exerzitien geworden ist, in seiner forschungspraktischen Genese erläutert. Die verschiedenen um Kultur, Ästhetik und Klassenfragen kreisenden Forschungsarbeiten werden dabei in ihren theoretischen wie empirischen Zusammenhängen dargestellt. Die Kapitel gestalten sich weitgehend chronologisch.
Nach einem kurzen biografischen Überblick, der die persönliche und wissenschaftliche Laufbahn und die Entwicklung von Bourdieus Forschungen und Theorien im wissenschaftlichen Kontext aufzeigt, werden zunächst im zweiten Kapitel (The Social Construction of Space) die frühen Forschungen in Algerien (1956-1961) vorgestellt, wo Bourdieu während seines Militärdienstes zum Zeugen einer durch die Eingriffe französischer Kolonisatoren erodierenden indigenen Kultur geworden war. Seine Untersuchungen zur algerischen Übergangsgesellschaft, zu denen auch einige der raren Texte Bourdieus gehören, in denen Architektur explizit behandelt wird, werden von Webster als Arbeiten zu Macht und Raum gelesen. Sie skizziert aber auch die Konversion des frischgebackenen Philosophen zum verstehenden Ethnologen und Soziologen, dessen Sichtweise damals stark von Max Weber und Karl Marx, aber auch vom Strukturalismus Levi-Strauss’ (am stärksten spürbar in seiner berühmten Analyse zum kabylischen Haus, »Das Haus oder die verkehrte Welt« 1960, 1970) geprägt war.
Im dritten Kapitel (The Anatomy of Taste) stellt Webster Bourdieus Analysen zur französischen Gegenwartsgesellschaft vor, in denen er Klassenlage und Lebensführung verknüpft: empirische Studien zum Kulturkonsum (etwa zum Museumsbesuch oder zum sozialen Gebrauch der Fotografie) und theoretische Überlegungen zur Wahrnehmung und Aneignung von Kunst münden 1979 in sein berühmtes Buch La Distinction (dt. Die feinen Unterschiede 1982), mit dem Bourdieu auf den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse verweist und aufzeigt, wie sehr sich Kunst und Kunstkonsum zur Erfüllung der (verschleierten) gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung und Stabilisierung sozialer Unterschiede eignen. Da die von Bourdieu entwickelte relationale Klassentheorie im Zuge der in den 1990er Jahren auftauchenden These vom Verschwinden traditioneller Klassen und Schichten in Zweifel gezogen wurde, wäre hier eine klärende Stellungnahme zu der bis heute kontrovers geführten soziologischen Debatte wünschenswert gewesen.
Im vierten Kapitel (Towards a Theory of Cultural Pratice) führt Webster vor, wie Bourdieu seine methodologischen Werkzeuge im Zuge seiner empirischen wie sozialgeschichtlichen Studien, die Bildungswesen, Wissenschaft, Recht und Religion genauso umfassen wie Literatur, bildende Kunst, Musik, Fotografie, Mode, Sport und Journalismus, zu einer Theorie der kulturellen Praxis ausbaut. Sie macht deutlich, wie und warum er sein Feld- und Habituskonzept gerade im Zusammenhang mit der Analyse jener Bereiche der sozialen Welt entwickelt hat, die der Produktion „besonderer“ kultureller Güter dienen. Drei Fallstudien – Webster greift neben dem Feld der Mode und der Literatur das Feld der Eigenhausproduktion heraus – sollen im fünften Abschnitt (Fields of cultural production) dann auch veranschaulichen, wie Bourdieus strukturale Feldanalyse funktioniert.
Die in den 1980er Jahren von Bourdieu und seinen MitarbeiterInnen durchgeführten Untersuchungen über den französischen Häusermarkt (zusammengefasst in dem zunächst auf Deutsch erschienenen Band Der Einzige und sein Eigenheim 1998) sind dabei von besonderer Bedeutung. Stellen doch die Beiträge (v. a. »Das Einfamilienhaus: Produktspezifik und Logik des Produktionsfeldes«, »Ein Vertrag unter Zwang«, »Der Eigentumssinn: Die soziale Genese von Präferenzsystemen«), in denen mithilfe von Interviews, Mitschnitten von Verkaufsgesprächen, der Analyse betrieblicher Daten und Werbematerialien das Phänomen der »Vereigenheimung« (Margaretha Steinrücke/Franz Schultheis) unter ökonomischen, sozial(psychologisch)en, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet wird, ein hohes Anregungspotential für die Reflexion gegenwärtiger Alltagsarchitektur und der Rolle von in Eigenheimproduktion verwickelter ArchitektInnen dar.
Webster hat alles in allem das Material für die angepeilte Leserschaft gut gewählt. Sie hat als Nicht-Soziologin mit der dafür nötigen Geduld und Aufmerksamkeit ein wahrlich dickes soziologisches Brett gebohrt und Bourdieus Fragestellungen wie theoretische Konzepte auf knappe wie verständliche Weise dargestellt, und zwar ohne dabei an Komplexität einzubüßen. Sie hätte den Herrschaftssoziologen, den Theoretiker »symbolischer Macht«, den Intellektuellen, dem es um jene Art von Reflexivität geht, die es einem ermöglicht, sich das eigene (feldspezifische) Denken etwas durchsichtiger zu machen, vielleicht stärker herausstreichen können. Jedenfalls wird in Websters Bourdieu-Einführung nur unzureichend fühlbar, was es für PraktikerInnen, Lehrende und WissenschafterInnen im Feld der Architektur bedeuten könnte, die (eigene Fach-)Welt (und darin sich selbst) mit Bourdieus Augen zu sehen. Zu ihrer Verteidigung muss jedoch gesagt werden, dass Bourdieu ohnedies nur durch die Lektüre seiner Schriften und nicht durch Vermittlung zum eye opener werden kann.
Anzumerken ist auch, dass die (architektur)feldinterne Bourdieu-Rezeption, mag diese auch im Vergleich zu anderen Feldern erst schleppend in Gang gekommen sein, in Websters Einführung weitgehend im Dunkeln bleibt. Von einem profunden Überblick über die ziemlich verstreuten Untersuchungen, die bislang Bourdieus Theorie im Feld der Architektur haben produktiv werden lassen, kann bei der etwas eilig hingeworfenen Seite mit Hinweisen auf drei AutorInnen nicht gesprochen werden, jedenfalls wird sie dem Bedürfnis versierter LeserInnen nicht gerecht. Als weiterer Mangel muss angeführt werden, dass Webster es verabsäumt hat, und dies darf bei einer fachlich so zugespitzten Einführung durchaus erwartet werden, Perspektiven für eine von Bourdieu angeregte Architekturforschung zu entwickeln. Was es heißen könnte, das große Anregungspotential der Bourdieuschen Modelle und Befunde zu Kultur für eine architektursoziolgische Forschung nutzbar zu machen, muss also Gegenstand zukünftiger Anstrengungen bleiben. Was zu hoffen bleibt: dass in Zukunft weniger über Bourdieus Theorie gesprochen und mehr mit ihr gearbeitet wird.
Im Heft wurde eine gekürzte Version der Besprechung abgedruckt.
Anmerkungen
Wacquant zeichnet selbst für eine unkonventionelle Einführung in das Denken von Pierre Bourdieu verantwortlich. Hervorgegangen aus einem Forschungsseminar wurden in An Invitation to Reflexive Sociology (1992) die Grundanliegen Bourdieuscher Forschung im Dialog mit Bourdieu entwickelt. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp 1996. ↩︎
Zu empfehlen ist neben der mittlerweile in 6. Auflage erschienen Einführung von Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg: Junius, 2009 (1995), das Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (ersterer betreut zusammen mit seinem Linzer Kollegen Ingo Mörth die umfassendste, kontextorientierte und referentielle Online-Bibliografie und Mediendokumentation aller Werke und Stellungnahmen von Bourdieu unter http://hyperbourdieu.jku.at/), das auf über mehr als 400 Seiten einen Leitfaden durch Bourdieus Begrifflichkeiten und Themenfelder sowie einen Einblick in rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge bietet. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2009. ↩︎
Vgl. etwa Webster, Helena: „The Analytics of Power – Re-presenting the design jury”, in: Journal of Architectural Education, Vol. 60, 2007/3, S. 21-27 (als zweithäufigst gelesener JAE-Artikel auf der Herausgeber-Homepage gelistet); dies.: „Architectural education after Schön: Cracks, blurs, boundaries and beyond”, in: Journal for Education in the Built Environment, Vol. 3, 2008/2, S. 63-74; dies.: „The Architectural Review: ritual, acculturation and reproduction in architectural education”, in: Arts and Humanities in Higher Education, 2005/4, S. 265-282; dies.: „The Design Diary: Promoting Reflective Practice in the Design Studio”, in: EAAE Transactions on Architectural Education, Vol. 24: Monitoring Architectural Design Education in European Schools of Architecture, 2004, S. 343-356; dies.: „Facilitating Reflective Learning- excavating the role of the design tutor”, in: Journal of Art, Design and Communication in Higher Education, Vol. 2, 2004/3, S. 101-111. ↩︎
Anita Aigner ist Assistenzprofessorin an der TU Wien. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Architektursoziologie.