
Das ABC des Wohnens
Besprechung von »WohnWissen: 100 Begriffe des Wohnens« hg. von Carolin Genz, Olaf Schnur und Jürgen AringWas ist eigentlich Wohnen? Geht es nach dem Duden, ist Wohnen das dauerhafte oder temporäre Verweilen an einem Ort, der als persönlicher Lebensraum dient. Das greift zu kurz. Wohnen ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Es gibt kaum ein Thema, das nicht mit der Wohnungsfrage verknüpft ist. Wie wir wohnen, gibt Auskunft über unsere Werte, politische, ökonomische und soziale Machtstrukturen. Wie wir wohnen, erzählt von den Dynamiken unserer Welt. Diese Komplexität lässt sich natürlich nicht in einem Wörterbucheintrag abhandeln.
In vielen aber schon. Der enzyklopädische Zugang kann Licht ins Dunkel bringen. Carolin Genz, Olaf Schnur und Jürgen Airing haben ein Nachschlagewerk herausgegeben, einen Duden über das Wohnen. Das Buch WohnWissen:
100 Begriffe des Wohnens zerlegt Wohnen in viele kleine Häppchen, um am Ende ein überraschend stringentes Bild eines vielschichtigen Themas zu liefern. Die Enzyklopädie des Wohnens ist ein erstaunlich erfrischendes Buch.
Mehr als 120 Autor:innen haben mitgemacht. Sie kommen aus den verschiedensten Disziplinen, etwa der Architektur, Soziologie, Ökonomie oder Rechtswissenschaften. Ihre kurzen, prägnanten Texte liefern nicht nur Definitionen, sie ordnen ein, stellen Thesen auf und neue Forschungserkenntnisse vor. Neben etablierten Wissenschaftler:innen kommen auch weniger bekannte Stimmen zu Wort, die den Diskurs bereichern.
Durch Querverweise und gegenseitige Bezüge aufeinander bilden die Schnipsel ein Netz aus Begriffen, ein gedrucktes Wikipedia, mit dem offensichtlichen Ziel, ein möglichst ganzheitliches Verständnis von Wohnen zu vermitteln. Das ist vermessen. Das breite Thema hat in dem schmalen Büchlein nicht Platz. Und passt dann doch irgendwie. Es ist der Zauber der Enzyklopädie, die List der Liste.
Listig ist auch die Auswahl der Begriffe. Dauerbrenner wie Miete, Eigenheim, Großwohnsiedlung sind natürlich Pflicht in einem Wohn-Glossar. Die Gentrifizierung wird genauso durchgekaut wie Renoviction – also die Praxis, Mieter:innen durch Renovierungen zu verdrängen. Die Kür bestreitet das Buch in Texten über den Schweinezyklus, Wachstumsschmerzen, die Bodenfrage.
Der letztere Begriff kristallisiert sich als einer der Schwerpunkte des Buches heraus. Er diskutiert Konzepte wie Umbaukultur als Gegenstück zur Abrisspraxis. Er erklärt aber auch, wie Erhalt und Sanierung von Wohngebäuden soziale Ungleichheiten verschärfen können. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verschränkung von Wohnen und Care-Arbeit. Überalterung, gendergerechte Planung, Partizipation und Koproduktion, die Rolle von Nachbarschaften und Quartieren als wichtige soziale Infrastruktur können unter diesem zweiten Themen-Cluster subsumiert werden.
Das Buch ist mehr als reine Bestandsaufnahme. Hier unterscheidet es sich von den Enzyklopädie-Reihen in Omas Einbauschrank. Mag es ihren Anspruch auf Vollständigkeit teilen – den Anspruch auf Neutralität teilt es nicht. Und das ist gut so. WohnWissen reflektiert die Rolle von Staat, Kommunen, der Zivilgesellschaft in der Gestaltung des Wohnens. Ungleiche Zugänge zum Wohnungsmarkt werden durch Begriffe wie Rassismus und Intersektionalität aufgefangen. Maßnahmen wie Rekommunalisierung, Leerstandsmelder, aber auch Mietenproteste stellt das Buch als mögliche Hebel zur Debatte.
Neben den wissenschaftlichen Kurzbeiträgen bereichern sieben künstlerische Arbeiten das Buch mit ihren fotografischen Perspektiven auf die Wohnungsfrage. Im Projekt Living Room der Künstlerin Jana Sophia Nolle werden temporäre Behausungen von wohnungslosen Menschen in den Wohnzimmern wohlhabender Menschen rekonstruiert. Die improvisierten Unterschlüpfe, losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext, werden zu skulpturalen Gefügen. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich ist augenscheinlich. Beide Welten sind soziale Konstruktionen eines Zuhauses und stehen gleichzeitig im Widerspruch zueinander.
Die Arbeit Abbruchstellen der Erinnerung. Ein Protest gegen das stille Vergessen von Ona Lia Bischoff dokumentiert fotografisch-kartografisch den Verlust sozialer Netzwerke durch den Abriss von Gebäuden in Basel und den damit verbundenen Bruch in der Erinnerungskultur. Der Beitrag verweist auf den im Glossar behandelten architektonisch-künstlerischen Ansatz des Grabens (digging) von Stella Flatten, mit dem Anspruch, im-materielle Qualitäten des Wohnens freizulegen.
WohnWissen ist ein wertvolles Kompendium. Durch die kompakte Darstellung der Begriffe verliert das Thema nicht an Substanz. Ganz im Gegenteil – in ihrer Gesamtheit bieten die Beiträge eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnen. Die Kürze der Texte macht das Werk zugänglich, ihre Fülle öffnet neue Perspektiven. Die Lektüre hinterlässt Eselsohren – und macht unmissverständlich klar: Wohnen ist mehr als persönlicher Lebensraum. Es ist ein grundlegender Pfeiler unserer Gesellschaft, der uns alle unmittelbar und kollektiv betrifft. Es wird Zeit, den Duden zu aktualisieren.
Carolin Genz, Olaf Schnur, Jürgen Aring (Hg.)
WohnWissen: 100 Begriffe des Wohnens
Berlin: Jovis Verlag, 2024
336 Seiten, 38 Euro
Christina Schraml lebt und arbeitet als Stadtforscherin in Wien.