Das andere Paris
Besprechung von »Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen« von Anne WeberAnne Weber
Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen
Berlin: Matthes & Seitz, 2024
301 Seiten, 26,50 Euro
Die Pariser Banlieues kennen wir alle aus den TV-Nachrichten. Wenn sie auftauchen, gibt es zumeist Berichte über Elend und Drogen, Einwanderung und Probleme, Aufstände und Unruhen. Wie am Rande vieler Großstädte wurden auch rund um Paris in den 1950er und 60er Jahren große Wohnsiedlungen gebaut. Eingezogen sind großteils Arbeiter:innen, die den Komfort von Neubauten damals durchaus zu schätzen wussten. Die Architektur der Wohnblöcke war ursprünglich gar nicht durchgehend so schlecht und lieblos, wie das heute scheinen mag. Der heutige, heruntergekommene Zustand hat oft eher damit zu tun, dass wenig oder kein Geld in Wartung und Sanierung gesteckt wurde und wird. Gleichzeitig waren die ersten Bewohnergenerationen vermutlich noch besser situiert als die heutigen, Arbeits- und Perspektivlosigkeit eher die Ausnahme als die Regel.
Anne Weber, Autorin von Bannmeilen (dt. für Banlieue), lebt in Paris und gesteht sich selbst ein, die nahe Stadtgrenze, die »unsichtbare Stadtmauer«, kaum einmal überschritten zu haben und wenig darüber zu wissen, als sie Thierry, ein alter Freund, einlädt, ihn für ein Projekt nach Seine Saint Denis zu begleiten. Die Reise beginnt auf einem Bahnsteig im Untergeschoß des Gare du Nord. Eine kurze Zugfahrt später, drei Kilometer außerhalb der Stadtgrenze, landen Thierry und Anne in einer anderen Welt. Der Unterschied ist nur, Thierry ist hier geboren worden, für Weber ist es unbekanntes Terrain. »Jedem, der hier aussteigt, muss klar sein, dass dies nicht mehr Paris ist.« Unansehnliche Neubauten, kaum ältere Gebäude, Autobahnen, Gleise, Obdachlose, Baracken, Drogendealer. Die beiden gehen los und streifen durch das Département, nicht nur an diesem Tag, sondern an vielen weiteren, insgesamt hunderte Kilometer, zu Fuß.
Genauso wichtig wie die Beobachtungen, die die Icherzählerin schildert, sind die Gespräche zwischen ihr und Thierry, während sie gehen. Thierry, der heute nicht mehr im Département wohnt, erzählt über die Veränderungen, die er, der dort Aufgewachsene, im Vergleich zur Zeit seiner Kindheit und Jugend wahrnimmt. »Zu meiner Zeit war es noch durchmischter, aber das ist vorbei«, stellt er beispielsweise fest, und meint, dass früher mehr Französinnen und Franzosen und mehr Arbeiter:innen aus europäischen Ländern hier gewohnt haben. Die Männer trugen Anzüge statt Kapuzenpullis und die Menschen hatten, unabhängig von der Herkunft mehr Kontakt miteinander. Thierry ist aber keineswegs nostalgisch, schmunzelt eher belustigt, wenn sich Weber wieder und wieder über den vielen herumliegenden Sperrmüll, die verwaisten Autoleichen und überhaupt den omnipräsenten Müll wundert. Thierry wittert eher tolle Drehorte für seinen angeblich geplanten Film über die kommenden Olympischen Spiele und die Banlieues, wenn sie wieder einmal auf einen besonders schmutzigen und elenden Ort stoßen. Er mokiert sich gerne über die »Unwissenheit und Privilegiertheit« der Autorin, sie wiederum macht sich über das »Sich-als-Afrikaner-Darstellen« des in Frankreich geborenen Algeriers lustig, was sie aber zumeist gleich darauf als unangemessen bereut. Beide ziehen sich, wenn sie in ein Thema gestolpert sind, das einen Konflikt erwarten lässt, in die Ironie zurück. Man muss Weber zugutehalten, dass sie keine Angst davor hat, Fragen zu stellen, Bemerkungen zu machen und in manchen Diskussionen auch nachzubohren, selbst wenn sie schon ahnt, dass Thierry sich gleich wieder über die naive, unwissende Europäerin lustig machen wird. Manchmal recherchiert sie nach einer Tour zuhause, um das nächste Mal das Gespräch besser vorbereitet wieder aufnehmen zu können. Dabei kommt es dann gelegentlich zu Konfliktsituationen, bei denen die Ironie kaum mehr hilft. Beispielsweise dann, wenn es darum geht, den Ablauf eines Ereignisses des Algerienkriegs zu rekonstruieren: Held oder Terrorist – wir kennen die Debatte aktuell nur zu gut.
Eine der auffälligsten Wahrnehmungen, die Weber macht, ist die Abwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum. Einmal stellt sie fest, dass sie nach vier Stunden Gehzeit an keinem einzigen Café vorbeigekommen sind, wo sie auch nur eine Frau als Gast gesehen hätten. Bei einer späteren Tour ist sie ganz überrascht, als sie im Hof einer Wohnanlage ein junges Pärchen beim Turteln erblickt. Damit hat sie zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr gerechnet. Thierry trocken dazu: Wahrscheinlich sind sie nicht von hier. An manchen Cafés gibt es sogar Aufkleber, die Frauen extra willkommen heißen, trotzdem sitzen dann nur Männer an den Tischen. Bei Moscheen treten die Männer durch den Haupteingang, Frauen dürfen im besten Fall einen Eingang an einer Gebäudeseite benutzen. Manchmal ist ihnen der Eintritt gar nicht gestattet. Als die beiden eines Tages ein Café entdecken, das im Verlauf des Buchs eine wichtige Rolle spielt, weil es so ziemlich der einzige Ort ist, auf den sie treffen, an dem unterschiedliche Menschen zusammentreffen und gelegentlich auch Frauen als Gäste anwesend sind, sagt Thierry leicht ironisch (wie die Autorin hofft): »Lass mich vorgehen, […] es würde dreist wirken, wenn du da als Frau zuerst hineinspazieren würdest.«
Die Lektüre von Bannmeilen vermittelt Bilder eines Stadtraums, die nicht nur die räumliche Peripherie der französischen Hauptstadt beschreiben, sondern auch die gesellschaftliche. Obwohl nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt, kann sich der europäische Blick, den Thierry der Autorin ständig unterstellt, auf vieles keinen Reim machen. Gleichzeitig hat sich auch der in Seine Saint Denis Geborene, der ein wenig zwanghaft versucht, spät aber doch eine Identität basierend auf der Herkunft seiner Eltern für sich zu finden, vom Banlieue-Leben nicht nur räumlich entfernt, was er souverän und cool zu überspielen sucht. Den beiden auf dieser Reise zu folgen, ist ebenso aufschlussreich wie manchmal amüsant.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.