
Das Archiv des Verschwindens
Kunstinsert von Johanna TinzlJohanna Tinzl widmet sich seit einigen Jahren intensiv dem Wandern, ja ›Abwandern‹ von Gletschern. Das Schrumpfen und Verschwinden der Gletscher wird von ihr skulptural begleitet und so in der Chronologie der Klimakatastrophe verortet.
Konkret transformiert Tinzl Gletscher über Abgüsse ihrer Topographien zu Skulpturen. Im dérive-Kunstinsert sind die Projekte der Pasterze (2022) in der Glocknergruppe und dem Schalfferner (2021) in den Ötztaler Alpen zu sehen. Weitere Arbeiten der bildenden Künstlerin stammen vom Gepatschferner und dem Vermuntgletscher in den Alpen sowie dem Sólheimajökull auf Island. Vor ihrem Aufenthalt auf den Gletschern recherchiert Johanna Tinzl gemeinsam mit Glaziolog:innen Geodaten, Karten und Luftbilder. Den durch Messung im Herbst ermittelten Umriss gießt sie mit Alabastergips direkt am Gletscher in unterschiedlichen Maßstäben ab. Der Transport der Materialien für die Abgüsse durch Tinzl und ihr Team wird in Auseinandersetzung mit wetterbedingten Herausforderungen des hochalpinen Gebirges zum ›performativen Walk‹ . Auf diese Weise entsteht durch die künstlerische Sensorik, die den Gletscher zum ›Wesen‹ werden lässt, welches sich dann im weiteren Transformationsprozess in den Skulpturen wiederfindet, eine besondere Beziehung. Tinzl lässt den Gletscherskulpturen insektenartige Beine wachsen, die sich an der Landschaft orientieren, in die die Gletscher eingebettet sind. So als ob sie eine Möglichkeit bekommen sollten, der Klimakatastrophe davonlaufen zu können. Durch ihre Anordnung bekommen die Gletscherskulpturen den Charakter eines verzweifelten Kollektivs, das gemeinsam dem Schicksal des Verschwindens zu entrinnen versucht. Die Skulpturen selbst sind aus Beton gefertigt, einem CO2-emittierenden Material, das die Künstlerin ganz bewusst wählt. Es steht stellvertretend für die zerstörerischen Produktionsprozesse der Menschen und somit als Kontrapunkt zum Gletscher selbst.
Die in Innsbruck geborene Künstlerin studierte zuerst am Mozarteum in Salzburg, bevor sie das Studium der Transmedialen Kunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien abschloss. Ihre Arbeit umfasst ein breites Spektrum an Medien und basiert auf einer sensiblen und partizipativen Auseinandersetzung mit der Geschichte bestimmter Menschen, Communitys, Orten und Landschaften. Dabei geht sie Fragen nach kollektiven Erinnerungen und politisch motivierten Prozessen der Repräsentation nach. Tinzls besonderes Interesse gilt der Performativität historischer Erzählungen und der Sichtbarmachung globaler wie lokaler Dimensionen ökologischer und technologischer Prozesse. Ihre Arbeiten wurden bei zahlreichen internationalen Ausstellungen und Screenings gezeigt. Zuletzt bei der Donumenta in Regensburg (2025), im Rahmen der Klima Biennale Wien (2024), im Kunstforum Montafon (2023), im Muzeum Ume˘ní Olomouc (2023), bei der Diagonale (2023), in der Wiener Secession (2022), im Kunstraum Lakeside (2021), im Belvedere 21 (2020) und in der Kunsthalle Wien (2020). Für 2026 ist Johanna Tinzl zur Arctic Circle Expeditionary Residency in die Arktis eingeladen.
Johanna Tinzl lebt und arbeitet in Wien.
Barbara Holub ist Künstlerin und Mitglied von transparadiso, einer Platform für Architektur, Urbanismus und Kunst.
Paul Rajakovics ist Urbanist, lebt und arbeitet in Wien.