Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Sowohl die Anzahl der Slums als auch die Anzahl seiner BewohnerInnen hat in den letzten Jahrzehnten rasant zugenommen. Mike Davis, Autor von Planet der Slums, vermutet, dass es weltweit ca. 200.000 von ihnen gibt, in denen rund eine Milliarde Menschen lebt. Manche beherbergen ein paar Hundert Menschen andere Millionen. Wobei Megaslums ein Phänomen sind, das es erst seit den 1960er Jahren gibt. Völlig falsch ist mittlerweile die Annahme, SlumbewohnerInnen würden freies Land besetzen und sich damit Kosten für Grundstückserwerb oder Miete sparen. Die Kommerzialisierung informeller Wohnmöglichkeiten ist heutzutage eher der Normalzustand als die Ausnahme. Barackensiedlungen werden vergrößert und Hütten ausgebaut, die Armen vermieten an die noch Ärmeren und diese haben als MieterInnen noch weniger Rechte als die BesitzerInnen der Hütten, die im Falle von Umsiedelungen etc. wenigstens eine kleine Chance auf Kostenersatz haben und manchmal auch die Möglichkeit, ihr Grundstück zu verkaufen. Der unterschiedliche, auf den Eigentumsverhältnissen gründende Status der SlumbewohnerInnen verhindert in großen Slums oft auch die Solidarität untereinander: Die Interessen zwischen BesitzerInnen und MieterInnen sind nicht ident.

Eine der Ursachen für das starke Wachstum der informellen Siedlungen sieht Davis im Kolonialismus: Die Kolonialverwaltungen verhinderten lange Zeit den Zuzug der Landbevölkerung in die Stadt und ließen Viertel der Einheimischen verkommen. Das Ende des Kolonialismus und die nationalen Befreiungskriege trieben viele Menschen in die dafür nicht vorbereiteten Städte: „Mehr noch als Hunger und Schulden wirkten Bürgerkrieg und Aufstandsbekämpfung als gnadenlose und effiziente Hebel informeller Urbanisierung in den 1950er und 1960er Jahren.“ Eine weitere Ursache für den starken Zuzug in die Städte war der Bedarf an billigen Arbeitskräften für die Industrie, der wie ein Magnet auf die verarmende Landbevölkerung z.B. Mexikos wirkte.

Die Versprechen der nationalen Befreiungsbewegungen, die die Macht in den postkolonialen Staaten übernahmen, blieben oft genug leere. Von neuen Wohnbauten profitierte meist nur die Mittelklasse - und nicht die Armen. In Ländern, in denen auch für die Armen Wohnraum geschaffen wurde, wie z.B. in China, beklagten die nun in Hochhäusern am Stadtrand Wohnenden „[...] die erhebliche Einschränkung ihrer sozialen Kontakte, der Kommunikation mit den Nachbarn, der Zeit, die mit den Kindern verbracht wird, sowie die zunehmende Isolation und Einsamkeit alter Leute.“

Ab den 1970er Jahren wurden IWF und Weltbank zu den wichtigen Playern bei Stadtentwicklungsmaßnahmen: Im Vordergrund standen Selbsthilfeprojekte (Sites and Service Projects) und Slum-Modernisierungsprogramme, die der Autor kritisiert, weil Slums nicht modernisiert, sondern durch angemessenen Wohnraum ersetzt werden sollten. Laut Davis sind mehr oder weniger alle Programme Fehlschläge, sogar diejenigen, die mit Preisen ausgezeichnet wurden. Leider ist Davis hier die Masse der Beispiele wichtiger als die genaue Darstellung von ein, zwei Projekten, was vielleicht mehr zum Verständnis dazu beigetragen hätte, warum die Programme zum Scheitern verurteilt waren.

In weiteren Teilen seines Buches geht Davis auf das Phänomen der Gated Communities in den zunehmend segregierten Dritte-Welt-Städten, die immer zahlreicher werden und gerne Namen wie z.B. Beverly Hills tragen, und deren ökologische, ökonomische und Verkehrsprobleme ein. Besonders wichtig ist ihm die Kritik an den SchönrednerInnen der informellen Ökonomie. Als Lieblingsfeind hat er sich dafür den neoliberalen, peruanischen Ökonomen Hernando de Soto ausgewählt.

Davis Bücher zeichnen sich stets durch enormen Faktenreichtum aus, bei Planet of Slums gerät das aber nicht immer zum Vorteil. An manchen Stellen wird das Thema von Zahlen, die nichts mehr zum besseren Verständnis beitragen, fast verschüttet. Ein Anhang mit Zahlen und Fakten wäre wahrscheinlich übersichtlicher und würde den Text selbst von dieser Last befreien. Hoffnung auf eine Besserung der Lage lässt Davis dem/der Leser/in keine. Alle Maßnahmen und Programme scheitern fast überall und unter allen Regimen. Die Zustände sind katastrophal und werden täglich noch schlimmer; eine Wende ist nicht in Sicht. Man möchte fast hoffen, dass die von Davis in Planet der Slums präsentierte totale Ausweglosigkeit nur eine Werbung für sein nächstes Buch ist, das er im Nachwort ankündigt: es soll darin um die Geschichte und die Zukunft(!) des in den Slums verwurzelten Widerstands gegen den globalen Kapitalismus gehen – ich bin gespannt.


Heft kaufen