Das gescannte Leben des Baumeisters
Besprechung von »Le Corbusier. Le Grand« herausgegeben von Jean-Louis Cohen und Tim BentonDie acht Kilo schwere Monografie im Format 49,6 x 36,8 x 9,6 cm zu Leben und Werk Le Corbusiers will schon rein als physisches Phänomen die Sonderstellung dieses „Giganten der modernen Architektur“ unterstreichen. Im Wesentlichen handelt es sich um ein Bilder-Buch, dessen Material aus dem Bild-Archiv der Pariser Le-Corbusier-Stiftung stammt und durch einen Scanner geschickt wurde. Skizzenbücher, Fotografien, Postkarten, Gemälde, Zeichnungen, Korrespondenz, Zeitungsausschnitte, Baustellenfotos, Pläne, (un-) realisierte Projekte – Zentrales und Peripheres wurde zu einer fortlaufenden Bilderflut montiert, die das Leben des Architekten chronologisch nachvollzieht.
Man folgt den Zeugnissen eines aufmüpfigen jungen Künstlers und Herausgebers der Zeitschrift L’Esprit Nouveau, eines Verfassers polemischer Schriften, eines manischen Globetrotters und einer späteren „Celebrity“. Das Buch ist wie eine ausgeleerte Erinnerungskiste, Bekanntes wurde kommentarlos neben noch nie gezeigtes Archivmaterial gestellt. Die Essays von Tim Benton, die den Kapiteln vorangestellt sind, dienen mehr als Interpunktionen, die ein Durchatmen erlauben. Im einleitenden Essay des französischen Architekturhistorikers Jean-Louis Cohen wird ein wenig salbungsvoll auf die Bedeutung des auch heute noch tatsächlich erstaunlich radikalen Werks des Architekten und Urbanisten hingewiesen. Gezeigt werden auch die Arbeiten des unglaublich produktiven Malers, Bildhauers, Möbeldesigners und nicht zuletzt des Autors Le Corbusier. Dieser hatte – neben Frank Lloyd Wright – den modernen Schriftsteller-Architekten erfunden, der die Theorie zu seinem Werk gleich selbst mitliefert und gleichzeitig moderne Medien virtuos wie ein „Art Director“ zur Propagierung der eigenen Ideen nutzt. Le Corbusier hinterließ 7000 Seiten Schriften. Seine zentralen Texte Urbanisme, Vers une architecture und La ville radieuse gingen dem tatsächlichen Bauen oft voraus. Jahrzehntelang tingelte der Prediger der Utopie der „strahlenden Stadt“ mit Vorträgen durch die Welt, bis er in Chandigarh in Indien am Ende seines Lebens eine neue Stadt bauen konnte. Die ausgeklügelten Kombinationen von Text, Fotografie und moderner Typografie in den Publikationen waren auch Pionierarbeit in modernem Grafik Design, wie der Band sehr schön zeigt. Dass Le Corbusier auch „jeden Vormittag“ an seinen Gemälden arbeitete (400 Gemälde!), erstaunt nach wie vor. Die zahlreich gezeigten Bilder wirken heute in ihrem orthodoxen Kubismus im Vergleich zur Kraft der gebauten Architektur recht harmlos, bezeugen aber zumindest einen unbegrenzten Ehrgeiz, der einen unglaublichen Output zur Folge hatte.
Teilweise geben die Zeugnisse wie persönliche Briefe oder etwa Nacktaufnahmen des Architekten intimere und oft auch redundante Einblicke in das Privatleben des Künstlers, der im Ruf stand, ein naiver Sozialromantiker zu sein, ebenso das Image des rousseauschen „Edlen Wilden“ pflegte, aber auch ein Erotomane gewesen sein soll. Erstaunlich leicht hingeworfene frühe Zeichnungen von Tänzerinnen und erotischen Szenen zeugen von nächtlichen Streifzügen durch die Variétés, Cabarets und Clubs des Pariser Nachtlebens. Diese Gegenüberstellung zu den allgemein bekannten Skizzen und Aquarellen der Bildungsreisen durch den Mittelmeerraum 1907 mit Landschaften, Städten und Gebäuden zeigen ein breiteres Bild als jenes, das vom „Heroen der Moderne“ gerne gezeichnet wird. Denn sonst werden die vielen interessanten Brüche im Leben und Werk des Architekten gerne verschwiegen, dessen politische Positionierung etwa oft von einem Extrem ins Andere kippte. Mit einer kleinen Sensation kann das schwere „Coffee-Table-Book“ auch aufwarten: Es zeigt einen wieder ausgegrabenen Entwurf für den Umbau eines Seine-Dampfers in ein schwimmendes Obdachlosenasyl für die französische Heilsarmee 1929. Hinweisen sollte man auch auf das „dünne Buch“, das dem großen Buch beigelegt ist und das Übersetzungen der Texte, die im französischen Original abgedruckt sind, enthält. Nicht zuletzt die Briefe geben ein anschauliches Bild von einem Mann, der vom Sockel steigt und den alltägliche Sorgen plagen – da beschwert sich etwa ein Bauherr in einem Brief über Bauschäden, und der Architekt fordert im Antwortbrief genervt das Honorar ein, das er noch nicht bekommen hat.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.