Das Labor europäischer Modernefantasien
»In der Wüste der Moderne«, Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt, Berlin„Jede neu eröffnete Baustelle ist ein Bataillon, jedes fertige Gebäude eine gewonnene Schlacht.“ Auf dieses Zitat von Hubert Lyautey, Militärgouverneur und von 28. April 1912 bis 25. August 1925 der erste französische Generalresident in Marokko, stößt man in der Ausstellung In der Wüste der Moderne, die im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt wird.
„Französisch-Nordafrika“ war ein Labor europäischer Modernisierungsfantasien. Den Strukturen und Wirkungsweisen dieses gebauten und bewohnten Labors geht das unter der künstlerischen Leitung von Marion von Osten realisierte Ausstellungsprojekt nach. Neue Forschungen über Architektur und Stadtplanung der Moderne wurden nicht „zu Hause“ in Europa erprobt, sondern „in der außereuropäischen Fremde“, im kolonialen Nordafrika der 1950er und 1960er Jahre, um dann von dort aus an die europäischen Stadtränder in Form des egalitären Versprechens des Massenwohnbaus zurückzukehren. Ohne den Kolonialismus, so die These der dokumentarischen Ausstellung, wäre die europäische Version der Moderne weder denk- noch umsetzbar gewesen. Und was vielleicht in der Gegenwart als Reflexionsaufgabe noch entscheidender ist: „Wir leben in der kolonialen Moderne. Die Dekolonialisierung hat bei uns nicht stattgefunden“, wie Marion von Osten es formuliert.
Als Forschungs- und Kooperationsnetzwerk wurde ein mehrjähriger Arbeitsprozess initiiert, der in Archiven und Feldforschungen sowie künstlerischen Untersuchungen der Janusgesichtigkeit der Moderne zwischen Emanzipationsversprechen und Kolonialverwaltung nachging. Das interdisziplinäre Forschungsteam – Tom Avermaete, Serhat Karakayali und Marion von Osten arbeiteten gemeinsam mit Wafae Belarbi, Madelaine Bernstorff, Jesko Fezer, Brigitta Kuster, Andreas Müller, Daniel Weiss sowie Studierenden der Akademie der bildenden Kunst Wien, der Architekturfakultät der TU Delft und der Ècole Supérieure d’Architecture de Casablanca – recherchierte Geschichten von Bewohnerinnen und Bewohnern, Architekten, Stadtplanern, Kolonialisten, Anthropologen und Wissenschaftlern, die alle ihren Anteil hatten am Projekt der Modernisierung.
Der Versuch der Rekonstruktion der Geschichte als Beziehungsgeflecht zwischen Europa und Nordafrika, materialisiert in Stadtplanung, Architektur und alltäglicher Nutzung, wird in Architekturmodellen, Flugblättern, historischen Filmdokumenten und zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten von Kader Attia und Hassan Darsi vermittelt. Grafiken und Pläne von Georges Candilis, Michel Écochard, Alison und Peter Smithson oder Malerei von Le Corbusier und Chaibia stellen die modernistischen Utopien vor und kontextualisieren sie in der Aneignung durch die Bewohner wie im zeithistorischen Bezugssystem der Befreiungsbewegungen und der kolonialistischen Propaganda.
Die Massenbauweise, wie wir sie als heu-tige, oft als Problemzonen titulierte Gebiete westlicher Stadtränder kennen, hatte ihren Probelauf in Nordafrika. Die visuelle, in den Architekturkanon eingeschriebene Ikonografie dieser Architekturen der nordafrikanischen Moderne zeichnet ein leuchtend weißes, formenbetontes Bild, das zeitlos monografische Architektenhandschriften als immerwährende Utopie transportiert. Heutige Feldforschungen förderten das tatsächliche Aussehen dieser Bauten, in vielfachen, vielstimmigen Überbauungen, additiven Ergänzungen und eigenwilligen Umnutzungen durch Bewohnerinnen und Bewohner zu Tage. Diese Bilder sind im Kanon der Architekturrezeption Störfaktoren, die verschämt verschwiegen, international ausgeblendet werden. Diese Bilder verkörpern jedoch genau jene Risse und Spannungsverhältnisse des Nachhalls ihrer schon im Entstehungsprozess höchst widersprüchlichen Geschichte zwischen den beanspruchten Planungsgewissheiten eines technokratischen Urbanismus und eines von Befreiungsbewegung, Eigeninitiative und Konflikt geprägten Alltagsurbanismus. Dass die technokratische Moderne nicht die Patentlösung ist, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Umwelt selbst zu gestalten und Architekten dafür nur Rahmenbedingungen liefern und dass eine andere Bildproduktion über den gebauten urbanen Raum den Alltag der Nutzung als Potenzial des Individuums hervortreten ließe, gerade das könnte man von diesem Testgelände der Moderne in Nordafrika eben auch lernen. Hier setzt das vom Medienkollektiv Labor k3000 im Kontext des Gesamtprojekts realisierte Internetprojekt an: www.this-was-tomorrow-net versammelt Video- und Filmclips über Massenwohnbauten, aufgenommen aus der Perspektive ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Alle derzeit nach einem topografischen Grid aufzufindenden privaten Kurzfilme und Videoclips stammen aus dem Internet selbst. In Zukunft soll die Sammlung durch den direkten Kontakt zu den ProduzentInnen dieses Filmarchivs erweitert werden und auch mögliche Begegnungen von Wohnhochhaus zu Wohnhochhaus als Zukunftsperspektive in Betracht ziehen.
Der Ausgangspunkt des mehrjährigen Projekts der Auseinandersetzung mit urbanen Formationen als Strategie des Reglementierens und Potenzial individuierter Aneignung durch BenutzerInnen liegt für die exemplarische Fallstudie Casablanca in vielerlei Hinsicht in Europa: gemeinsam mit Studierenden hatte Marion von Osten vor mehreren Jahren einen ungeliebten Massenwohnbau in der Nähe von Zürich beforscht, dessen architektonische Entstehungsgeschichte bereits Richtung Nordafrika wies. Das für die Europäer gebaute Casablanca erlebte in den 1950ern eine Umdrehung der Mehrheitsverhältnisse in der BewohnerInnenstruktur: Als willkommene Arbeitskräfte siedelten sich MarokkanerInnen am Stadtrand an. Sie errichteten ihre spontanen Siedlungen, die so genannten Bidonvilles (Kanisterstädte), die einen Konnex mit den komplexen Strukturen der alten Medina-Viertel aufweisen, welche wiederum Vorbild für den Entwurf der Freien Universität Berlin durch die nordafrikaerfahrenen Architekten Candilis, Josic, Woods und Schiedhelm waren. Rezipiert wurde die heroisch-technologische Seite der FU als Innovation der Moderne, nicht jedoch die Erfahrung der außereuropäischen Fremde als wichtigste Inspirationsquelle. Nicht zuletzt ist es der Ausstellungsort selbst, der das Verhältnis zur Moderne als Aufgabenstellung für das Heute sowie eine Geschichte zwischen Freiheitsversprechen, politischer Symbolkraft des Gebauten und ideologischem Transfer eingeschrieben hat: Die Kongresshalle Berlin, in der sich das Haus der Kulturen der Welt befindet, ist ein prestigeträchtiger, ikonischer Bau der Moderne und wurde anlässlich der internationalen Bauausstellung, der Interbau 1956/1957 von den USA errichtet und dann im Jahr 1958 als Geschenk an die Stadt Berlin übergeben. Diese historische Symbolkraft des Gebäudes nahm der Intendant Bernhard M. Scherer zum Anlass, über eine Neuschreibung der Beziehungen „zwischen Europa und dem Rest der Welt“ als Leitlinie für die zukünftige Programmierung nachzudenken.
Es geht um die Zusammenhänge, Brüche und Konflikte der Beziehungen zwischen Nordafrika und Europa. In einer „Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses“ von der Michel Foucault spricht, wird der Versuch unternommen, die widersprüchlichen und zwiespältigen Bewegungen der kolonialen Geschichte und der Dekolonisierung des Alltags nachzuzeichnen. Die heutigen Vorstädte und Trabantenstädte europäischer wie nordafrikanischer Großstädte sind die gebauten Orte wie sozialen Räume transnationaler Bewegungen, Begegnungen, Kontakte und Konflikte. Das durch die RechercheurInnen zu Tage geförderte Material ist prekär, ein vollständiges Bild lässt sich nicht rekonstruieren. Diesen Umstand reflektiert das Ausstellungsdisplay von Jesko Fezer, Andreas Müller und Anna Voswinckel. Für jedes Ausstellungsobjekt wurde ein eigenes kleines Stahlgestell gebaut, das die Raumdramaturgie bestimmt. Alles wurde für die RezipientInnen auf Augenhöhe gebracht. Die Hinterseiten der Stahlgestelle verweisen auf die Lücken in der Rezeptionsgeschichte. Sie sind leer.
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Ausstellung
In der Wüste der Moderne
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
bis 26.10.2008
Filmreihe Kleine Pfade – Verschränkte Geschichten, Performance Walking Cube von Kanak Attack,
Ausstellungsgespräche, Internationale Konferenz
Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.