Anne Erwand


»Wer spielt, übernimmt eine Rolle und hält sich an Regeln«. So lautet die Aufschrift auf einer der Tafeln im letzten Raum der aktuellen Spiele der Stadt-Ausstellung im Wien Museum. Und tatsächlich fasst dieser Satz die Ausstellung gut zusammen, denn sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der oft komplexen Beziehung zwischen den (vermeintlich nur der Unterhaltung dienenden) Spielen und der Gesellschaft an sich. Schon der Soziologe Erving Goffman wusste, dass das Spielen von Rollen in unserem Leben einen entscheidenden Platz einnimmt. Und durch das Spielen erlernen wir auch einige dieser Rollen. Wie Spiele die jeweilige Zeit, in der sie entwickelt und gespielt wurden, widerspiegeln und wie sich in ihnen auch gesellschaftliche und politische Werte und Ideale reflektieren, darum dreht sich ein Großteil der Ausstellung.
Dass man nicht ohne Grund von Gesellschaftsspielen spricht, zeigt sich bereits im ersten und größten Raum der Ausstellung. Ein großzügig eingerichtetes Puppenhaus von 1893 verweist auf die damals gängige Praxis, Mädchen so früh wie möglich an ihre spätere Repräsentantinnenrolle als Dame des Hauses heranzuführen. Die Jungen durften dafür fleißig mit Zinnsoldaten spielen. Im 19. Jahrhundert stand unter der Maxime »genussreiche Bildung« vor allem das spielerische Erlernen von Faktenwissen im Vordergrund. Brettspiele wie Die Weltgeschichte von 1815 oder Sonne, Mond und Sterne von 1825, die in der Ausstellung präsentiert werden, sollten diesen edukativen Zweck erfüllen. Fang- und Versteckspiele wie Scharade (heute kennt man das Spiel unter dem Namen Activity) oder Blinde Kuh wurden wiederum nicht zuletzt deshalb gerne gespielt, weil sie eine unverfängliche – weil in einem gesellschaftlich tolerierten Rahmen stattfindende – Annäherung zwischen den Geschlechtern erlaubten. In einem weiteren Teil der Ausstellung, der sich mit Reformpädagogik und Spiel beschäftigt, werden diese und ähnliche pädagogische Ansätze noch einmal aufgegriffen.
Der zweite Teil der Ausstellung beschäftigt sich in einer eigenen, kleinen Sektion mit Spielen, die vor allem für Erwachsene gedacht waren und sind. Billard, das aus den aristokratischen Salons in die bürgerlichen Kaffeehäuser wanderte, Kartenspiele, die vor allem bei den ArbeiterInnen beliebt waren, und Schach – wobei hier zum ersten Mal in der Ausstellung tatsächlich der Konnex zur Stadt hergestellt wird. Denn Wien war im 18. und 19. Jahrhundert eine der Schachmetropolen der Welt. Auf einem Stadtplan lässt sich nachvollziehen, wie zahlreich die damals sehr populären Schachcafés in Wien waren – heute gibt es davon kein einziges mehr. Denn jüdische MigrantInnen aus Osteuropa hatten das Spiel nach Wien gebracht, und mit ihnen ging nach dem Zweiten Weltkrieg auch Wiens Bedeutung als Schachmetropole verloren. Die Nationalsozialisten versuchten zwar mit dem Wehrschach ein neues Schach auf den Markt zu bringen, das Spiel mit den heute teils bizarr anmutenden Figuren (Flieger, Panzer und Adler statt Bauer, Springer und König) konnte sich aber nicht durchsetzen. Wie sehr Spiele auch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zu Propagandazwecken eingesetzt wurden, zeigt sich in einem weiteren Teil der Ausstellung noch einmal: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Stereotype und Feindbilder mit Spielen wie Der Schwarze Peter von Serbien reproduziert. Soldaten konnten sich während ihres Einsatzes mit Halma im Felde von den täglichen Grausamkeiten des Krieges ablenken.
Weitere Teile der Ausstellung widmen sich den Themen Glücksspiel, Verbrechen und Spiel, Stadt als Spiel (Stichworte Matador und DKT) sowie berühmten österreichischen Spieleerfindern wie Franz Weigl, der mit Typ Dom den Vorläufer des heutigen Scrabble erfand. Der Abschnitt Draußen beschäftigt sich mit der Verknüpfung von Spiel und Stadtraum. Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts das Spielen auf der Straße für viele Kinder in Wien und Europa noch zum Alltag gehörte, setzte die urbane Reglementierungswut dieser Praxis schließlich ein Ende. Im Stadtraum tauchten Spielen verboten!-Schilder auf, wobei der zunehmende Autoverkehr den Kindern ohnehin keine Wahl mehr ließ. Das Spiel an sich wurde in klar abgegrenzte und markierte Zonen der Stadt verdrängt – die Spielplätze, die nach dem Zweiten Weltkrieg in hoher Zahl in Wien gebaut wurden. Die futuristische 50/60er-Jahre Architektur dieser Orte lässt sich heute allerdings nur noch im Museum bewundern – in Wien selbst wurden viele dieser Spielplätze aus Sicherheitsgründen wieder abgerissen.
Wie sich bereits an dieser kurzen Rundschau ablesen lässt, bietet das Wien Museum in seiner Ausstellung einen kaleidoskopartig-schillernden Einblick in das Thema Spiele der Stadt. Diese Vielfalt hat aber auch zur Folge, dass viele Themen nur schlaglichtartig gestreift werden – was nicht zuletzt auch an den leider viel zu kleinen Räumlichkeiten liegt, die der Ausstellung zugestanden worden sind. Auch wenn man sich oft noch tiefergehende Informationen gewünscht hätte, als Einstieg in die Thematik ist ein Ausstellungsbesuch auf alle Fälle lohnend. Nicht zuletzt wegen der liebevoll und repräsentativ-treffend ausgewählten Exponate. SozialwissenschaftlerInnen mag die ein oder andere Conclusio, die in der Ausstellung gezogen wird, nur allzu bekannt erscheinen (Stichwort: Sozialisation), doch auch hier macht der Charme der Ausstellung vieles wett.
Im letzten Ausstellungsraum schließlich werden die BesucherInnen von den Klängen einer der »heimlichen Hymnen Wiens« begrüßt: Horst Chmelas Ana hat imma des Bummerl. Und dieser akustische Abschluss ist tatsächlich mehr als passend, denn da ist sie wieder: die ewige und untrennbare Verknüpfung zwischen Spiel und Leben. Ein Sieg kann einen weit bringen, aber am Ende muss immer einer verlieren.


Heft kaufen