Das urbane Bewusstsein der Aufständischen
Besprechung von Christoph LaimerRoger V. Gould
Insurgent Identities - Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune
Chicago: The University of Chicago Press 1995
262 Seiten, 35,70 Euro
Als die erste Diktatur des Proletariats hat Friedrich Engels die Pariser Commune bezeichnet und diese Perspektive auf die Ereignisse im Jahr 1871 beeinflusst bis heute die Sichtweise auf die 73 Tage im Jahr 1871 in Paris. Roger V. Gould hat es sich für seine 1995 erschienene Publikation Insurgent Identities – Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune zur Aufgabe gemacht, zu untersuchen, wie die soziale Struktur der Aufständischen tatsächlich ausgesehen hat. Seine These ist, dass die Pariser Commune, anders als die Revolution von 1848 nicht die Arbeiterklasse, sondern die Stadtbevölkerung als Basis hatte. Während es 1848 vorrangig um wirtschaftliche Nöte ging, spielte 1871 das Im-Stich-Lassen der Pariser Bevölkerung durch die Regierung im Krieg gegen die Preußen eine zentrale Rolle. 1848 stand das Recht auf Arbeit im Vordergrund, 1871 waren ökonomische Themen nur am Rande präsent. Wenn, dann ging es um Mietrückzahlungen, offene Rechnungen und ähnliches. Auch der Stadtumbau von Paris war ein wichtiger Punkt, warum die Commune 1871 sich von der Revolution von 1848 unterschied. Er hat neue Netzwerke und soziale Verbindungen entstehen lassen. Der entscheidende Punkt war nach Meinung von Gould gar nicht unbedingt die Segregation von Arbeiter- und Bürgertum, sondern, dass Teile der Arbeiterschaft in reine Wohngebiete verdrängt wurden, während andere nach wie vor fest mit ihren handwerklichen Enklaven verbunden waren. In der Commune waren Erstere die aktiveren. Gould schlägt vor, dass die Commune »as a movement in which the city of Paris as a whole acted collectively to defend its municipal liberities« verstanden werden soll. Die Mobilisierung zum Aufstand passierte dementsprechend vorrangig informell durch Nachbarschaftssolidarität.
Dem Buch liegt eine sehr gewissenhafte und detaillierte Untersuchung zu Grunde. Gould hat sich genauso angesehen, welchen sozialen Hintergrund Trauzeugen bei Eheschließungen in Arbeitervierteln hatten, wie er in die Polizei-Protokolle von Versammlungen der Kommunard*innen Einschau gehalten hat. Er diskutiert die Thesen von David Harvey, Manuel Castells und Henri Lefebvre über die Frage, welche Rolle das Urbane gespielt hat, ebenso wie er sich mit Theorien über die Entstehung des Klassenbewusstseins und von kollektiven Identitäten auseinandersetzt. Eine wirklich lohnende Lektüre für das Verständnis der Pariser Commune.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.