Das Wissen der Architektur explizit machen
Besprechung von »Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Band 1 und 2« herausgegeben von Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland MeyerAuf welches Wissen baut Architektur eigentlich auf – ob nun in ihrer Praxis oder in Forschung und Lehre? Lange Zeit herrschten zwei explizite Wissensstränge vor: einerseits ein geisteswissenschaftliches Wissen in einem Spektrum vom spekulativ-philosophischen bis zum kunsthistorischen und andererseits ein technologisches Wissen. Vieles andere gehörte dazu, blieb jedoch weitgehend implizit und (somit) nur durch Meisterklassen, Studios, Projektarbeiten vermittelbar. Das wird vermutlich immer so bleiben, weil große Teile dieses Wissens gar nicht explizierbar sind. Trotzdem gibt es mit dem zweiten Band der Anthologie von Grundlagentexten zum Architekturwissen, den Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer nun vorgelegt haben, einen wichtigen Versuch, die Wissensbasis der Architektur besser nachvollziehbar zu machen und sie auf eine andere Basis zu stellen: nämlich auf kulturwissenschaftliche (und, ist man angesichts der Vielzahl von SozialwissenschaftlerInnen in der Sammlung versucht zu sagen, auf soziologische) Fundamente. Dieser Schwenk bringt viele in der Architekturtheorie bekannte Texte mit sich, jedoch durchaus auch jedenfalls für diesen Kontext neue. Er versucht gewissermaßen, mithilfe eines bekannten »Kanons« von Texten die impliziten Grundlagen der Architektur sichtbar zu machen, indem diese neue verknüpft und positioniert werden und so das Bekannte neue, überraschende Effekte zeitigt. Und vor allem: Dieser Schwenk verschiebt die Perspektive. Es geht nun nicht mehr um materielle Objekte, sondern um Praktiken, die diese Objekte ebenso wie menschliche AkteurInnen umfassen; es geht nicht mehr vorrangig um den materiellen Raum, betrachtet entweder als Spiegel der Gesellschaft oder, beliebter bei ArchitektInnen, als Innovator, Veränderer der Gesellschaft, sondern um die Wechselwirkungen zwischen dem sozialen und dem materiellen Raum, oder anders formuliert: um den materiellen Raum als Teil des sozialen Raums. Kurz gesagt: Es geht darum, was der gebaute Raum mit den Menschen und ihren Körpern, den Dingen, den Zeichen tut – und was diese mit dem gebauten Raum tun. Auf dem Umschlag der beiden Bände wird dezidiert klargestellt, dass sich das Architekturwissen um den sozialen Raum und seine Ästhetik und Logistik dreht – und mit sozialem Raum ist definitiv nicht Architektur (allein) gemeint. Architektur im breiten Sinne, wie der Begriff hier gebraucht wird, ist somit das, was die räumliche Verteilung von Materiellem und Immateriellem realisiert (Logistik, Band 2), sowie das, was die Wahrnehmbarkeit, das Erscheinen und Verbergen des Materiellen und Immateriellen im Raum erzeugt (Ästhetik, Band 1). Das bedeutet, dass Architektur sich nicht nur mit Gebäuden, sondern ebenso sehr mit sozialen Praktiken befassen muss – und das ja auch bereits jetzt tut, wenn auch häufig implizit. Das Explizitmachen dieses Wissens ermöglicht es, die übliche Praxis seiner Anwendung besser kritisieren und verändern zu können. Die HerausgeberInnen nehmen in der Einleitung zum ersten Band Bezug auf Henri Lefebvres Theorie der Raumproduktion: Sozialer Raum (bei Lefebvre immer in der Vielzahl zu denken) sei demnach durch materielle wie symbolische Praktiken hervorgebracht, insgesamt also Produkt, das heißt Resultat sozialer Praxis – und gleichzeitig Rahmenbedingung sozialer Praxis. Architektur ist nun in dieser Konstellation sowohl materielle als auch symbolische Produzentin, wobei Lefebvre die ArchitektInnen mit ihren Symbolen im Bereich des Herrschaftswissens ansiedelt und die »Räume der Repräsentation«, die vorrangig aus den verorteten Bedeutungen des Alltagsgebrauchs der Menschen bestehen, als Potenzial sieht, diesem Herrschaftswissen zu entkommen. Im Unterschied dazu versteht Pierre Bourdieu den physischen Raum als materialisierte Projektion des sozialen Raums, der somit die sozialen Strukturen sichtbar macht und legitimiert. Michel Foucaults »Dispositiv« bietet eine komplexere Sicht auf dieses Verhältnis, näher an Lefebvre: Sein Dispositiv besteht aus Diskursen, Aussagen und Gesetzen ebenso wie aus Architekturen und Institutionen. Diese Elemente können einander ebenso stützen wie behindern, produzieren aber jedenfalls Effekte nur im Zusammenspiel. Noch autonomer werden die Dinge bei Bruno Latour, der ihnen grundsätzlich die gleiche Handlungsmacht wie den Menschen einräumt, sie somit als »nicht-menschliche Akteure« im Akteurs-Netzwerk versteht. Die HerausgeberInnen sehen die Unterscheidung zwischen Gebautem und Ungebautem, zwischen dauerhaft und flüchtig Materialisiertem als wenig bedeutsam an und verweisen dabei auf Judith Butler, die Materialisierung als Prozess versteht. Ebenso wie Butlers Körper und deren Geschlechtsidentitäten sich durch die dauernde Wiederholung spezifischer Praktiken materialisieren, könne man gebaute Räume so verstehen, dass sie erst durch bestimmte soziale Prozesse und Vernetzungen, durch eine spezifische Organisation des Alltagslebens ihre Materialisierung erfahren. Oder, wie das Karl Marx formulierte: »ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Haus; also als Produkt im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion.« Im ersten Band, der Ästhetik, ging es ums Versammeln, jetzt ums Verknüpfen. Der nunmehr vorliegende zweite Band widmet sich der Logistik des sozialen Raumes, also der Eingebundenheit der Architektur in technische Netze sowie soziale und ökonomische Austauschprozesse und den Distributionseffekten der Architektur selbst. Der ureigenste Bereich der Architektur ist dabei die Mikrologistik der alltäglichen sozialen Praktiken, während die großmaßstäbliche Logistik auf ihrer Eingebundenheit ebenso wie auf der der Architektur basiert. Die 38 Texte des zweiten Bandes befassen sich mit allen Aspekten dieses räumlichen Vernetzens: mit Orten und Identitäten, mit Schwellen und Grenzen, mit Anordnungen und Verteilungen, mit Wegen und Kanälen, mit Märkten, Eigentum und Verwertung sowie mit Handeln und Entwerfen. Im letzten Abschnitt, Handeln und Entwerfen, wird auch gleich eine kleine Theorie des architektonischen Entwerfens entworfen: Hannah Arendts Unterscheidung zwischen dem interaktiven, kommunikativen »Handeln« und dem rein zweckorientierten, nicht interaktiven »Herstellen« fordert die Selbstsicht der Disziplin heraus. Lefebvres Praxistheorie sieht gerade in der Alltagspraxis die Möglichkeit für Freiheit – sicherlich nicht jedoch in den oktroyierten »Repräsentationen des Raumes«, die die Menschen von oben durch Architektur verbessern sollen. Claude Lévi-Strauss’ Ingenieur entwirft auf den Trümmern der alten eine neue Welt, sein Bastler arbeitet das Vorhandene um – und damit wird eine Grundidee der Architektur spätestens seit der Moderne sichtbar. Giancarlo De Carlo begründet eine Architektur der Partizipation mit der traditionellen Nähe der Architektur zur Macht. Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben das postfordistische Arbeitsmodell der Projektarbeit, durch das die »Künstlerkritik« an der entfremdeten Arbeitswelt in das kapitalistische System integriert wurde. Und Bruno Latour versteht das Handeln von menschlichen AkteurInnen nur als einen besonderen Fall unter vielen, neben dem Handeln von Texten, Dingen, Techniken, die alle eng vernetzt sind mit anderen Orten und anderen Zeiten: Er fordert ein politisches Forum nicht für die Architektur und auch nicht für die zukünftigen BewohnerInnen dieser Architektur, sondern für die Dinge – und mit dieser radikal anti-idealistischen Konzeption sind wir wieder dort, wo die moderne Architektur begonnen hat, nämlich bei der erstrebten Macht des Materiellen über das Soziale.
Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.