» Texte / »Der Anstrich des Gebäudes muss den Augen unschädlich seyn.«

Harald Stühlinger

Harld Stühlinger hat in Wien und Venedig Architektur und Kunstgeschichte studiert. Seit 2004 ist er Assistent am Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Stadtbaugeschichte von Wien und Fotografie der Frühzeit.


Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Das Aussehen einer Stadt – das Stadtbild, die Stadtsilhouette, der Stadtgrundriss usw. – wurde und wird von den unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst, nicht zuletzt auch von den Baubestimmungen. Die Auseinandersetzung mit den Bauordnungen entschlüsselt das Bild der historischen Stadt, wie es sich etwa in den alten Stadtansichten präsentiert, und vermag zum Verständnis der Stadtentwicklung bis in die Gegenwart einen wichtigen Beitrag zu leisten. Wien präsentiert sich heute, nach rund 175 Jahren geltenden Bauordnungen, als Schichtung ablesbarer Auswirkungen der jeweils geltenden Vorschriften. Diese sind auf städtebaulicher wie auf architektonischer Ebene nachvollziehbar. Die Entschlüsselung dieser Einflüsse sowie die Abgrenzung der Auswirkung der einzelnen Bauordnungen sind das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

Bauordnung und Stadtgestalt

Der neuzeitliche Städtebau – und das gilt gewissermaßen auch für die vorangegangenen Bauepochen – entwickelte sich innerhalb eines bestimmten Normenrasters, in dem ab dem 19. Jahrhundert der Bauordnung eine wichtige Rolle zufiel. Neben den Veränderungen, die aus der technischen Weiterentwicklung von Materialien und deren Anwendungen entstanden, manifestierten sich in den Verordnungen stets auch die expliziten Vorstellungen einer Epoche. Sie waren ein Zusammenspiel von Erfahrungswerten und prophylaktischen Regelungen, um eventuell auftretende Unglücksfälle zu verhindern. Ganz allgemein gesprochen zeigten sie, womit die Obrigkeit in Zukunft rechnete, und sie folgten daher der Entwicklung und dem Wissenstand der Gesellschaft einer Zeit. Im vorliegenden Text wird der Begriff der Stadtgestalt im Vergleich zu bestehenden Studien kapillarer aufgefasst, indem nicht nur der unmittelbare Einfluss der Bauordnung auf das allgemeine Stadtbild untersucht, sondern auch ein gezielter Blick auf einzelne Elemente, welche die Stadtgestalt im Kleinen ergeben, gerichtet wird. So stehen den harten Faktoren, wie Straßenbreiten und Gebäudehöhen, den weichen wie Materialisierung und Ausführungsdetails gegenüber. In einer städtischen Umgebung schweift der haptische Blick über zahl-lose Oberflächen, die in ihrer Gesamtheit die physisch erfassbare Stadt konstituieren – angefangen vom Kanaldeckel bis hin zur Dachform.

Die Zeit bis zur ersten Wiener Bauordnung

In den Jahrhunderten, die dem neunzehnten vorangingen, waren die bautechnischen Regeln für Wien Teil der Vorschriften zur Vorbeugung von Feuersbrünsten. Aber nicht nur um die Brandgefahr zu minimieren, sondern auch um die Aufrechterhaltung und die Sicherheit des Verkehrs zu gewährleisten, wurden Baulinien von der Obrigkeit festgelegt. Obwohl für Wien bereits aus dem Jahr 1706 Vorschriften über Baulinien bekannt sind, wurden Bauvorhaben im Bedarfsfall noch lange Zeit an Ort und Stelle besprochen und dabei die Baulinien ausgehandelt.

Stadtbild prägend wirkte auch das Verbot der Errichtung von Räumlichkeiten unter dem Dach. Dieses Verbot fand Eingang in eine Vorschrift vom 31. Dezember 1817 und besagte, dass die „Herstellung der sogenannten französischen Dächer mit gerade aufgestelltem Sparrwerk als feuergefährlich verbothen wird; insbesonders aus der Ursache, weil dergleichen Dächer zur Anbringung der ausgeschallten Boden oder Dachzimmer Anlaß geben, die unter keinem Vorwande geduldet werden dürfen.“[1] Die in Frankreich erlaubten Mansard-Dachwohnungen stellten nur eines von vielen Beispielen dafür dar, dass in einem Land etwas erlaubt war, was in einem anderen dezidiert verboten wurde. Es steht fest, dass Bauregeln nie einer absoluten und allgemeingültigen Objektivität entspringen, sondern stets kulturellen Eigenheiten folgen, die zum Beispiel aus der Tradition von ortstypischen Bauweisen hervorgehen.

Wenn man an Bauvorschriften denkt, so hat man stets Regeln vor Augen, die das Bauen betreffen. Historische Bauordnungen können aber auch dahingehend stadtbildprägend sein, dass sie bestimmten, dass Bereiche unbebaut verbleiben müssten. In der Zeit vor der ersten Bauordnung gab es zwei große Bereiche in und um Wien, die mit einem Bauverbot belegt waren. Die Fläche des Glacis und jene zu beiden Seiten des Linienwalls mussten per Gesetz unbebaut bleiben und behielten lange den Charakter eines Frei-, Spiel- oder Verkehrsraumes bei. Das bewusste Freihalten von Flächen war daher ebenso bestimmend für die Stadtgestalt wie das Bauen selbst.

Wiener Bauordnungen im 19. Jahrhundert

Am 13. Dezember 1829 wurde die erste Bauordnung für Wien herausgegeben, in der die bis dahin geltenden Verordnungen in einer ersten Fassung zusammengeführt und um neue Vorschriften ergänzt wurden.[2] Die Bauordnung entstand aus dem „Bedürfnis einer klaren und bündigen Zusammenstellung aller für Privat-Bauführungen inner den Linien Wiens bereits bestehenden Regeln, da auf Grund der Zunahme im Baubereich sich die Regierung veranlasst sah, die zerstreuten Bauvorschriften unter dem Titel einer Bauordnung für Wien zusammen zu fassen. […] Die wichtigen Rücksichten der öffentlichen Sicherheit, der Regelmäßigkeit und des Ebenmaßes bei den Gebäuden der Hauptstadt haben die Staatsverwaltung von jeher bestimmt, die Privat-Bauführungen inner den Linien Wiens besonderen gesetzlichen Bestimmungen zu unterwerfen.“[3] Die angeführte Trias aus öffentlicher Sicherheit, Regelmäßigkeit und Ebenmaß spiegelt in übertragenem Sinn das reaktionäre politische Klima im österreichischen Kaiserreich des Vormärz wieder. Auch in Baubelangen kam es mehr und mehr zum Einfluss von staatlicher Seite, den man durch die Schaffung des Hofbaurates 1809 zu erreichen trachtete.

Im Jahr 1835 folgte die Gründung des Wiener Stadtbauamtes, womit der nationalen Stelle ein magistrales Pendant gegenübergestellt wurde. Wien war eine Stadt im „Erzherzogthum unter der Enns“, und ihre administrative Grenze reichte bis zur ers-ten Stadterweiterung von 1850 bis an die Stadtmauer. In weitblickender Voraussicht erhielt die Stadt jedoch schon damals eine Bauordnung, welche auch die an sie anschließenden Vorstädte bis zur Gürtellinie mit einschloss. Diese wirkte sich nicht nur innerhalb ihres Geltungsbereichs positiv auf die Stadtentwicklung aus, sondern beeinflusste noch die an den Ausfallstraßen liegenden Vororte.

Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Die erste, dreißig Paragraphen umfassende Bauordnung teilte sich in drei Abschnitte und umfasste die Regeln, die die Zeit vor Baubeginn, während des Bauaktes und nach Fertigstellung der Arbeiten betraf.[4] Die wichtigsten Vorschriften in städtebaulicher Hinsicht beschränkten sich auf die Höhe der Häuser und die Breite der Straßen. Die Limitierung der Bauhöhe wurde auf vier Stockwerke festgesetzt, ohne aber eine maximale Höhenangabe zu nennen.[5] Jede neue Fahrstraße musste mindestens fünf Klafter (9,5 Meter) breit sein.[6] In diesem Zusammenhang standen auch die Baulinien, die stets von Fall zu Fall, sich immer auf das öffentliche Interesse berufend, neu verhandelt wurden. Allgemein zeigte sich eine respektvolle und wohlwollende Haltung gegenüber den Hausbesitzern, die gleichwohl die Kostenminimierung für die Kommune im Auge behielt.[7] In architektonischen Belangen waren die Vorschriften, wenn sie die Errichtung von Wohn- und Geschäftsbauten und die Benutzbarkeit des öffentlichen Raumes betrafen, weitaus detaillierter. So wurden etwa für die Dachrinnen und das Dach folgende Bestimmungen festgesetzt: Mit der neuen Bauordnung mussten – obschon sie schon in Bestimmungen aus dem Jahr 1797 zu finden waren – bei jedem Neubau Dachrinnen angebracht werden.[8] Es handelt sich um Elemente, die die Fassaden gliedern und zum architektonischen Gesamteindruck beitragen.[9] Auch wenn es sich dabei um scheinbar banale Elemente handelt, sind sie Stadtbild prägend, gliedern die Fassaden und tragen dadurch zum architektonischen Gesamteindruck bei. Das Aussehen der Dachzonen wurde dahingehend bestimmt, dass als Deckmaterialien nur Ziegel, Schiefer oder Dachbleche erlaubt waren und neue Rauchfänge mindestens vier Schuh (etwa 1,25 Meter) über das Dach zu reichen hatten. Auf Grund technischer Innovationen wurden in der Folge weitere Deckungsmaterialen zugelassen, immer aber mit der Auflage verbunden, feuerfest zu sein.

Amendements

Bald zeigte sich, dass die Regeln dieser Bauordnung nicht ausreichten, so dass zusätzliche Verordnungen erlassen werden mussten, damit auf veränderte Anforderungen und vor allem auf technische Neuerungen Rücksicht genommen werden konnte. Für ein großes Neubaugebiet in Wien-Brigittenau wurde die folgende Verordnung beschlossen, die daraufhin für das gesamte Stadtgebiet Geltung erlangte: „In diesem Plane ist auf die Anlage der für eine Gemeinde von größerer Ausdehnung erforderlichen öffentlichen Gebäude, als Kirche, Pfarrhof, Schule, Amtsgebäude, geräumige Straßen und Plätze gehöriger Bedacht zu nehmen. Die in diesem Plane für die Straßen, welche durchaus wenigstens in einer Breite von sechs Klaftern anzutragen sind, so wie für die Plätze eingezeichneten Baulinien werden bei allen einzelnen Bauten in der Art zu berichtigen sein, daß jedes einzelne Gebäude das diesfällige Allignement einzuhalten haben wird.“[10] Dabei handelte es sich um eine der ersten großen einheitlichen Parzellierungsplanungen, wie sie später in einem Halbmond um die Stadt von Westen bis nach Südosten verwirklicht wurden. Wenn im Verordnungstext auf öffentliche Gebäude, geräumige Straßen und Plätze hingewiesen wurde, so zeichnete sich darin bereits das Bild der später ausgeführten gründerzeitlichen Rasterstadt mit ihrem homologen Stadtgrundriss und wiederkehrenden öffentlichen Gebäuden und ausgesparten Plätzen ab. Die zaghafte Änderung der Straßenbreite auf sechs Klafter trug dem stärker werdenden Verkehr Rechnung, wobei in der Folge die Straße eine stete Verbreiterung erfuhr.

Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Eine Verordnung, die nur einen marginalen Teil der Straßenoberfläche regelte, aber nicht unbedeutend für die sichere und angenehme Benutzung der Stadt war, betraf die Kanalabdeckungen, deren Einbau beziehungsweise Wartung bis dahin zu wünschen übrig ließ: „Die in der innern Stadt Wien auf den öffentlichen Gassen und Plätzen vorhandenen zahlreichen Bedeckungen von Kanal- und andern Oeffnungen gefährden im hohen Grade die persönliche Sicherheit des Publikums, da sie nicht selten über das anliegende Steinpflaster emporragen und zu dem gewöhnlich mit Eisenplatten oder mit Eisenbändern und eisernen Nägeln beschlagen sind; daher besonders durch Regen und Schnee schlüpfrig werden, und das Ausgleiten und Fallen der Fußgeher veranlassen, wodurch bereits mancherlei Beschädigungen und Unglücksfälle herbeigeführt worden sind.“[11] Bis 1845 konnten diese Abdeckungen in Holz, Stein oder Eisen hergestellt werden; in der Folge wurden die hölzernen Abdeckungen durch steinerne oder eiserne ersetzt, so dass die hölzernen Abdeckungen für immer aus dem Stadtbild verschwanden.

Ende der 1830er Jahre entstanden unzählige Geschäftsportale, die mehr und mehr den Straßenraum verengten. „Da die Aufstellung der Gewölb-Dekorationen in der neueren Zeit so überhand genommen hat, daß auch in den Vorstädten solche Gewölb-Auslagen in einer Ausdehnung hergestellt werden, wodurch nicht selten die Passage wesentlich verengt wird, so findet die Regierung die Dominien inner der Linien Wiens dafür verantwortlich zu machen, daß derlei Unfüge für die Zukunft gehörig hintangehalten werden.“[12] Überarbeitet wird diese Bestimmung in die nächste Bauordnung einfließen.[13]

Am 20. Dezember 1857 kam es zu einer für Wien folgenschweren kaiserlichen Entscheidung. Franz Joseph I. drückte in seinem Handschreiben seinen Willen aus, die Stadtbefestigung zu schleifen, um daraufhin auf dem frei werdenden Terrain eine Stadterweiterung zu realisieren, die dem Repräsentationsbedürfnis des Kaiserhauses, mehr aber noch dem des Bürgertums Rechnung tragen würde. Dieser Entschluss war aber nicht die Ursache für die zweite Wiener Bauordnung von 1859, denn diese ging bereits auf die Erlässe des Innenministeriums vom 23. und 31. August 1853 zurück.

Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Die drei Abschnitte der Bauordnung von 1829 wurden nun auf sieben erweitert, wobei die Abschnitte I bis III aus dem älteren Abschnitt I hervorgingen.[14] In der neuen Bauordnung wurden städtebauliche Aspekte hervorgehoben, da nämlich den Themen Baulinie, Niveau und Parzellierung in eigenen Paragraphen Platz eingeräumt wurde. So legte Abschnitt I fest, dass bei einem Neubau an einer Stelle mit einer veränderten Baulinie ein Vor- bzw. Zurückrücken über die ehemals bestehende Baulinie sowohl Hausbesitzer als auch Gemeinde ohne Schaden zu stehen kommen sollten. Die veränderten Baulinien – hier sei auf den nicht in die Bauordnung aufgenommenen Baulinienplan von 1866 verwiesen – hatten dann auch das markante Vor- und Rückspringen der Häuserflucht in vielen Gassen Wiens zufolge.Da nicht ganze Gassen einheitlich umgebaut wurden, wie dies in Paris der Fall war, sondern es nur im Zuge eines Hausneubaus zu einem Zurückweichen an die neue Baulinie kam, wurden diese uneinheitlichen Baulinien perpetuiert. Neben dieser Verordnung, die sich bis zum heutigen Tag auf das Aussehen vieler Wiener Straßenzüge auswirkte, war eine andere von nicht geringerer Wirkung. Auf das zeitgleiche große städtische Umbauprogramm in Paris blickend, wurde in der neuen Bauordnung festgelegt, dass neue Straßen in den neuen Stadtentwicklungsgebieten möglichst geradlinig und mit einer Breite von nunmehr acht Klaftern (15,2 m) anzulegen waren.[15]

Anders als in der älteren Bauordnung, die Neubauten auf vier Stockwerke beschränkte, wurde in der neuen eine maximale Höhe der Häuser von 13 Klafter (24,65 Meter) bis zur Traufe festgelegt. Obwohl die Geschoßhöhen mit 9 bzw. 10 Schuh (2,85 – 3,16 m) Mindestmaß vorgeschrieben waren und man damit bis zu sieben Geschoße hätte bauen können, verblieb man bei den üblichen fünf Geschoßen, obwohl ein Nachsatz in der Bauordnung dem Bauherren explizit die Anzahl der Geschoße überließ.

Die Abschnitte IV und V entsprachen den Abschnitten II und III der alten Bauordnung. Darin wurde unter anderem festgelegt, dass die bisher willkürlich errichteten Kelleröffnungen, die sich weit in den Trottoirbereich hineinzogen, ab jetzt nur mehr mit besonderer Bewilligung angelegt werden durften und aus Stein oder Eisen sein mussten.

Im vierten Abschnitt betraf eine kurze, aber nicht uninteressante Vorschrift die farbige Ausgestaltung der Bauten. „§ 55 Der Anstrich des Gebäudes muß den Augen unschädlich seyn.“ Auf welches Farbauswahlverhalten der Wiener Bauherren, die anscheinend mit zu aufdringlichen Fassadenanstrichen die Gemüter einiger ihrer Zeitgenossen erhitzt hatten, diese gesetzliche Reaktion abzielte, ließ sich im Zuge dieser Recherchen nicht mehr nachvollziehen. Bezüglich der Dachrinnen wurde die ältere Bestimmung übernommen, aber um den Zusatz erweitert, dass ein Herabfallen von Schnee oder auch der Eindeckung verhindert werden musste.

Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Nach dem verlorenen Krieg Österreichs gegen Preußen und Italien, im Jahre 1866, gewann die Gemeinde Wien an politischem Einfluss gegenüber dem Staat, so dass in der Folge das Magistrat die höchste Behörde für Bauangelegenheiten wurde. Davor kam es im Jahr 1865 innerhalb des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins zur Formulierung des Entwurfs einer Bauordnung für Wien durch ein hier-zu gewähltes Komitee.[16] In dieser Bauordnung, die nie zu einer Rechtsgrundlage wurde, wurde die kluge Überlegung, dass die Höhe der Wohnhäuser einer Straße von deren Breite abhängig zu machen sei, wohl noch zu früh angestellt.[17] Die noch im 19. Jahrhundert folgenden Bauordnungen werden nichts darüber aussagen, und erst im 20. Jahrhundert wird man diesen Vorschlag umsetzen. Darüber hinaus wurden bereits „selbständige Feuermauern“ konzipiert, deren Anwendung hingegen in der kommenden Bauordnung geregelt wurde.[18] Mit 2. Dezember 1868[19] kam es zur dritten Bauordnung, welche sich zwar von der letzten kaum unterschied, jedoch vor einem vollkommen anderen politischen Hintergrund ihre Wirkung entfaltete. Bereits ein Jahr später wurden per Gesetz vom 20. Dezember 1869 einige Paragraphen novelliert und im Landesgesetzblatt 1870, Nr. 1 und 3 neu verfasst.[20]

Diese Bauordnung war auch während des Baubooms zwischen 1868 und 1873 gültig. Die Gliederung der Bauordnung von 1859 wurde in der neuen um einen Abschnitt verkürzt.[21] Im ersten Abschnitt wurde im Zuge der Regelung der Baubewilligungen die schon bekannte Vorschrift über die Baulinie und deren Schadloshaltung bei Veränderungen angeführt. Die Straßenbreite verblieb bei acht Klafter, und auch die erlaubte Höhe der Wohnhäuser veränderte sich nicht; lediglich die Beschränkung der Stockwerke wurde nun auf fünf Geschoße festgesetzt. Neu ist nun die Verordnung über „selbständige Feuermauern“, die jedes Haus zu haben hat. Diese die Feuersicherheit der Häuser betreffende Regelung ist in bautechnischer Hinsicht wichtig, da sie jedes Gebäude, das im Verbund steht, zu einem leicht austauschbaren Stadtbaustein macht.

Die Regelungen der architektonischen Details blieben bestehen und wurden nur in manchen Fällen detaillierter ausformuliert. In Bezug auf die Errichtung von Erkern und geschlossenen Balkonen wurde eine notwendige Straßenbreite von 8 Klafter statt der üblichen 6 vorgeschrieben. Wurde in der vorigen Bauordnung das Vorspringen von „Gallerien“ und offenen Balkons, ohne Geschäftsportale explizit zu erwähnen, auf 4 Zoll (10 cm) beschränkt, so wurden in der neuen Bauordnung Sockel mit darauf stehenden „Gewölbsdecorationen“ mit neun Zoll (etwa 23 cm) limitiert. Für einen tieferen Vorbau musste eine gesonderte Genehmigung eingeholt werden.

Obwohl die Bauordnung von 1868 über 15 Jahre ihre Gültigkeit behielt, begann man bereits in den 1870er Jahren mit Beratungen über ein neues Reglement. Der niederösterreichische Landtag verlangte zwei Mal eine Überarbeitung, so dass erst beim dritten Anlauf die dritte Bauordnung per Gesetz vom 17. Jänner 1883[22] von der Regierung sanktioniert werden konnte.

Die aus 110 Paragraphen bestehende Bauordnung – dies bedeutet eine Vervierfachung des ursprünglichen Umfanges der ersten Verordnung – wurde erstmals 1890[23] und 1920 zwei weitere Male novelliert. Dieses Regelwerk besaß beinahe ein halbes Jahrhundert lang seine Gültigkeit, bis es schließlich im Jahr 1929 durch die erste Bauordnung des 20. Jahrhunderts ersetzt wurde.

Die sechs Abschnitte der Bauordnung von 1868 verdoppelten sich fast auf elf, wobei die älteren zur Gänze übernommen und um fünf erweitert wurden.[24] Durch den tragischen Brandfall im Ringtheater im Jahre 1881 kam es zum VI. Abschnitt, der Vorschriften für Bauten, die für größere Menschenansammlungen (z. B. Theater) gedacht waren, beinhaltete. Vor Inkrafttreten dieser Bauordnung wurde auf österreichischem Reichsgebiet im Jahr 1875 vom Klaftermaß auf das Metersystem umgestellt. Die Bestimmungen bezüglich der Straßen blieben gleich, außer dass sich die geringste zulässige Straßenbreite von 8 Klafter – das entspricht einer Länge von 15,2 m – auf 16 m erhöhte. Bei den Gebäudehöhen zeitigte die Umstellung auf das Metermaß eine Veränderung von 24,65 m (13 Klafter) auf 25 m. Laut der neuen Bauordnung konnte in 6 m breiten bestehenden Straßen bis zu 25 m hoch gebaut werden, da noch keine Abhängigkeit zwischen der Straßenbreite und der Gebäudehöhe formuliert worden war.

Harald Stühlinger
Harald Stühlinger

Im VII. Abschnitt wurde ein neuer Paragraph über Industriebauten verankert, welcher zwischen Industriebauten in isolierter und in nicht isolierter Lage unterschied.[25] Dieser Paragraph wurde in der Novellierung von 1890 von größter Bedeutung, da er die funktionale Aufteilung des Wiener Stadtgebietes präfigurierte. Es blieb dem Gemeinderat vorbehalten, gewisse Teile innerhalb der Stadtgrenzen als durchgrünte Wohnquartiere auszuweisen. Diese Vorgaben wirkten sich nachhaltig auf die soziale Segregation im Stadtraum aus, da darin die verschiedenen Verbauungsmöglichkeiten von Wohnhäusern und somit deren soziale Verortung geregelt wurden.

Die Parzellenverbauung nahm vor 1883 untragbare Formen an, wobei sich die schlechten Belichtungs- und Belüftungsverhältnisse immer schlimmer auf die wohnhygienischen Zustände auswirkten. Grundstücke durften bis zu 85 Prozent verbaut werden; jedoch konnte diese Bestimmung noch verschärft ausgelegt werden, da von den verbleibenden 15 Prozent nur „der größere Theil auf den Haushof zu entfallen hat.“[26] Ab 1895 wurden mehrfach Dachgeschoße als Atelierräume bei der Behörde zur Genehmigung eingereicht, und da es sich um keine Wohnnutzung handelte, wurde diesen Gesuchen stattgegeben. Obwohl es in der Bauordnung keine neuen Verordnungen bezüglich der Dächer gab, traten im letzten Dezennium des 19. Jahrhunderts vermehrt aufwändige Dachformen auf. Sieben Jahren später kam es zur Novellierung[27] der Bauordnung von 1883, nachdem 1890 die zweite großflächige Eingemeindung in Wien stattgefunden hatte.

Eine Abgrenzung nach Zonen bestimmte die Gebäudehöhen, so dass Wohnbauten nur innerhalb des Gürtels mit der gesamten Bauhöhe von fünf Geschoßen ausgeführt werden durften.[28] In den ehemaligen Vororten (Bezirke XI bis XIX) galt diese Regelung nur an den Hauptstraßen und Plätzen, während die restliche Bebauung in diesen Bezirken auf vier Geschoße begrenzt wurde. Somit kam es in den weiten Gebieten der außen liegenden Bezirke zu einer Herabzonung der Wohngebiete unter städtebaulicher Betonung der Geschäfts- respektive Hauptausfallsstraßen.

Neben der bezirksweisen Zonierung nach Gebäudehöhen legte man dem Gesetzgeber auch ein zweites Werkzeug der Zonierung an die Hand. „Dem Gemeinderathe bleibt es vorbehalten, einzelne genau abzugrenzende Gebietstheile vorzugsweise für die Anlage von Industriebauten zu bestimmen.“[29] Diese Ergänzung ermöglichte es dem Gemeinderat, funktionale Städteplanung zu betreiben, was zum Beschluss des so genannten Bauzonenplanes führte, der vom Gemeinderat am 24. März 1893 genehmigt wurde. Den topographischen, verkehrstechnischen, klimatischen und soziogeographischen Gegebenheiten Rechnung tragend, entstanden im Süden und Südosten die großen Fabriken und gewerblichen Ansiedlungen und bestimmten somit die weiteren Entwicklungslinien und –schwerpunkte für die Zukunft der Stadt.

Zusammenfassung

Mit der Industriellen Revolution und der Attraktion der wachsenden Städte wurde das Leben in den urbanen Zentren durch erhöhte Geschwindigkeit schneller, durch räumliche Enge kompakter, durch ein umfangreicheres Angebot anziehender, aber in jedem Fall komplexer als es vorher war. Um der steigenden Komplexität mit einer gewissen Systematik zu begegnen, entstand Ende der 1820er Jahre das erste umfassende Regelwerk für Wien. Im Laufe des Jahrhunderts kam es durch die Zunahme an Paragraphen zu einer Verrechtlichung und einem gesteigerten Disziplinierungswollen durch den bürokratischen Apparat.

Stadtbild und Stadtgestalt spiegeln die Summe von komplementären Einflüssen wider, die auf die Stadt in andauerndem Ausmaß bis jetzt gewirkt haben und wirken. Durch gesellschaftliche Konventionen entsteht eine als kulturelle Übereinkunft zu deutende Bauordnung, die durch einen verpflichtenden Gestus bei einer baulichen Setzung ihren materiellen Ausdruck findet. Desiderat bleibt anhin eine eingehende Untersuchung der Einfluss nehmenden Instanzen aus Obrigkeit, Wirtschaft und Bürgertum, deren Interessen und Macht sich in den Gesetzestexten widerspiegeln.

Regelwerke teilen eine Stadt in verschiedene Zonen auf, sie beschreiben, wie Straßen und Gebäude auszusehen haben, und sie geben Aufschluss, wie Dinge des täglichen Gebrauchs in der Stadt zu sein haben. Verordnungen wie die Einführung der Dachrinnen, Fallrohre und Kanalabde-ckungen legen Zeugnis davon ab, dass ab einem gewissen Zeitpunkt für die Sicherheit der PassantInnen besonders Sorge getragen wurde. Darüber hinaus geben unterschiedliche Straßenbreiten von neu angelegten Straßen oder Straßendurchbrüchen, Höhen der Bauten, vorspringende Gebäudeteile oder erstmals verwendete Materialien Aufschluss über deren Errichtungszeit. Es gab Vorschriften, die nur kurz, und solche, die länger gültig waren und die sich in die Stadtgestalt eingeschrieben, sich als Schichtungen in der Stadttextur abgelagert haben.

Anhand einer Analyse können diese dechiffriert und zeitlich enträtselt werden. In diesem Rückwärtslesen von Stadtgeschichte liegt eine Kraft, ein Abenteuer, ein Erkundungsansatz. Denn alles materiell auf uns Gekommene hat eine lange Geschichte, und alle gebauten Formen und Werke – vom Einzelgebäude bis zum Pflasterstein – sind aus lebendiger Arbeit entstanden. Können wir die historischen Informationen lesen und mit der Zeit, in der sie entstanden sind, verknüpfen, schaffen wir es, Teile der sichtbaren historischen Stadt besser zu verstehen und erlebbar zu machen.

Fußnoten


  1. Zit. nach Schmid, Hugo (1935): Die Bau-ge-setzgebung für Wien. Wien, S. 224. ↩︎

  2. Verlautbarung der für Wien und seine Vor-städte entworfenen Bauordnung. Regierungs- Circulare vom 13. Dezember 1829, Zahl 67.863. ↩︎

  3. Regierungs-Circulare vom 13. Dezember 1829, Zahl 67.863, S. 898f. ↩︎

  4. „I. Abschnitt: Die Bestimmungen über den vor Unternehmung eines Baues zu beobachtenden Gang der Verhandlung. II. Abschnitt: Vorschriften in Ansehung des Baues selbst. III. Abschnitt: Nach dem Baue zu beobachtende Vorschriften.“ ↩︎

  5. Regierungs-Circulare vom 13. Dezember 1829, Zahl 67.863., S. 907, § 17. ↩︎

  6. Ebd., S. 902-3, § 9. ↩︎

  7. Ebd., S. 903-4, § 12. ↩︎

  8. Dekrete der niederösterreichischen Regierung vom 28. Januar und 29 August 1797. In: Mühlböck, Rudolf (1874): Baugesetz-Sammlung aller in den k. k. österreichischen Staaten (...), Wien, 2 Bände, Erster Band, S. 9. ↩︎

  9. Das Stadtbild von St. Petersburg z. B. ist von dicken Fallrohren, die in relativ geringem Abstand zueinander stehen, gekennzeichnet. Alt- wie auch Neubauten weisen solche Fallrohre auf, die bereits auf Stadtansichten des frühen 19. Jh. zu sehen sind. Welchen gestalterischen Stellenwert Fallrohre erreichen können, zeigte in jüngerer Zeit etwa Rob Krier an einem Eckhaus, bei dem er Fallrohre zu beiden Seiten bei den Nachbarhäusern anbrachte sowie eine genau an der Hausecke vertiefte, womit er die Gesimse der vier Geschoße unterbrach (Wohnbau in der Schrankenberggasse in Wien X, 1983-1986). ↩︎

  10. Regierungs-Dekret vom 30. März 1847, Zahl 15.837. In: Mühlböck, Rudolf (1874): Vierter Band, 1852, S. 7ff. ↩︎

  11. Regierungs-Cirkular vom 18. Mai1845 an den Wiener Magistrat. In: Mühlböck, Rudolf (1874): 3. Band, 1848, S. 2ff. ↩︎

  12. Regierungs-Verordnung vom 19. April 1837, Zahl 22.144.In: Mühlböck, Rudolf (1874): 2. Band, 1847, p. 220. ↩︎

  13. Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, im: LII. Stücke des Reichs-Gesetz-Blattes, Nr. 176, § 54, S. 510. ↩︎

  14. „I. Abschnitt: Von der Baulinie und dem Niveau. II. Abschnitt: Von der Abtheilung eines Grundes auf Bauplätze. III. Abschnitt: Von der Baubewilligung. IV. Abschnitt: Von den auf den Bau selbst Bezug nehmenden Vorschriften. V. Abschnitt: Von den nach Vollendung des Baues zu beobachtenden Vorschriften. VI. Abschnitt: Von den zur Durch-führung der Bauordnung berufenen Behörden und der Wirksamkeit derselben. VII. Abschnitt: Von den Strafbestimmungen.“ ↩︎

  15. Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, im LII. Stücke des Reichs-Gesetz-Blattes, Nr. 176, § 7, S. 501. ↩︎

  16. Entwurf einer Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien (76 Paragraphen), Wien 1865. ↩︎

  17. Entwurf einer Bauordnung für die k. k. Reichs-haupt- und Residenzstadt Wien, § 39, S. 4-5: „a) In Strassen von 4 Klafter Breite und darunter dürfen die Häuser nicht über 9 Klafter Höhe sein. b) In Strassen von 6 Klaftern Breite können die Häuser 11 Klafter und in Strassen von 12 Klafter Breite und darüber können dieselben 13 Klafter zur Höhe erhalten.“ ↩︎

  18. Ebd., § 50, S. 6. ↩︎

  19. Landesgesetz vom 2. December 1868, womit eine Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien erlassen wird. Enthalten im: Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns, 1868, XVI. Stück [ausgegeben 29. Dez, 1868] Nr. 24; sie umfasste 93 Paragraphen. ↩︎

  20. Hierbei handelt es sich um die Paragraphen 36, 37, 40, 42 und 56. ↩︎

  21. „I. Abschnitt: Von der Baubewilligung. II. Abschnitt: Von den auf den Bau selbst Bezug nehmenden Vorschriften. III. Abschnitt: Von den Industriebauten. IV. Abschnitt: Von den nach Vollendung des Baues zu beobachtenden Vorschriften. V. Abschnitt: Von den Uebertretungen der Bauordnung und deren Bestrafung. VI. Abschnitt: Von den zur Durchführung der Bauordnung berufenen Behörden.“ ↩︎

  22. Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien: Gesetz vom 17. Jänner 1883, L.- G.- Bl. Nr. 35, am selben Tag wurde mit L.- G.- Bl. Nr. 36 die Bauordnung für das Erzherzogthum unter der Enns außer Wien beschlossen. Diese setzte die erste Bauordnung vom Jahre 1866 außer Kraft. ↩︎

  23. Bauordnung für die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien: Gesetz vom 26. Dezember 1890, L.- G.- Bl. Nr. 48. ↩︎

  24. „I. Abschnitt: Von der Bestimmung der Baulinie und des Niveau für bestehende Strassen, Gassen und Plätze. II. Abschnitt: Von der Bestimmung der Baulinie und des Niveau für neue Strassen, Gassen und Plätze und von der Abtheilung eines Grundes auf Bauplätze. III. Abschnitt: Von Grundabtretungen und Straßenherstellung. IV. Abschnitt: Von der Baubewilligung. V. Abschnitt: Von den auf den Bau selbst bezugnehmenden Vorschriften. VI. Abschnitt: Bauten, welche für größere Ansammlungen von Menschen bestimmt sind. VII. Abschnitt: Von den Industriebauten. VIII. Abschnitt: Von der Bebauung von Wohnhäusern unter erleichterten Bedingungen. IX. Abschnitt: Von den nach Vollendung des Baues zu beobachtenden Vorschriften. X. Abschnitt: Von den Uebertretungen der Bauordnung und deren Bestrafung. XI. Abschnitt: Von den zur Durchführung der Bauordnung berufenen Behörden.“ ↩︎

  25. Bauordnung, Gesetz vom 17. Jänner 1883, Niederösterreichisches Landesgesetzblatt 35, § 71. ↩︎

  26. Ebd., § 43. ↩︎

  27. Bauordnung, Gesetz vom 26. Dezember 1890, Niederösterreichisches Landesgesetzblatt 48. ↩︎

  28. Ebd. § 42. ↩︎

  29. Bauordnung, Gesetz vom 26. Dezember 1890, Niederösterreichisches Landesgesetzblatt 48, § 71. ↩︎


Heft kaufen