Iris Meder


Man weiß nicht, an welcher Ecke der rettende Engel ihr architektonisches Erbe massakrierenden durchgeknallten Kommunal- und Landespolitikern zuerst in den Arm fallen soll. Jüngste Beispiele für beinhartes Investorendenken im Schulterschluss mit rückgratloser Politik und einem versagenden Denkmalschutz, der seinen Namen nicht verdient, waren in Wien Erich Boltensterns Kahlenberg-Restaurant und Anton Schweighofers Stadt des Kindes.

Ein weiteres Beispiel größerer Dimension droht gegenwärtig im Schwäbischen. Dort soll der Stuttgarter Hauptbahnhof, Hauptwerk nicht nur des Architekten Paul Bonatz, sondern auch einer der bedeutendsten Bahnhofsbauten der Architekturgeschichte und in zahllosen Standardwerken gewürdigt, im Zuge einer größenwahnsinnigen Schienennetz-Neuplanung zu großen Teilen dem Erdboden gleich gemacht werden. Die Schienenstränge sollen, offenbar nach Berliner und bald auch Wiener Vorbild, unter die Erde, um den Kopf- zum Durchgangsbahnhof zu machen. Die an beiden Seitentrakten, darunter dem auf dem Cover zu sehenden Ostteil, amputierte Halle soll zur unterirdischen Shopping Mall geöffnet und ihrer Funktion und architektonischen Wirkung damit komplett beraubt werden. Ebenerdig soll hinter der Halle Gras wachsen.

Die schwäbischen Anstrengungen, das in der Bevölkerung mehr und mehr abgelehnte und von der Deutschen Bahn selbst als verzichtbar klassifizierte Milliardenprojekt um jeden Preis durchzupeitschen, sind in ihrer Kaltschnäuzigkeit verblüffend – so arbeitete man, wie jüngst bekannt wurde, noch diesen Sommer mit Baukostenschätzungen aus dem Jahr 1993. Wie Matthias Rosers neues Buch über den Stuttgarter Bahnhof unter anderem dokumentiert, soll eine Zeitersparnis von drei Minuten auf der Strecke nach München dabei mit drei Millionen Euro Mehrkosten erkauft werden.

Das Buch des renommiertesten Bonatz-Experten ist, das verhehlt es nicht, das eines Abrissgegners. Es zeigt von Stuttgarter Architekturbüros erarbeitete Alternativlösungen zum „Stuttgart 21“-Projekt und berichtet ansatzweise vom bemerkenswerten Zusammenschluss auch zahlreicher namhafter Architekten und Architektinnen, die sich gegen den Abriss aussprechen und bei dem einstige architekturhistorische Lagerbildungen von Anhängern der traditionalistischen „Stuttgarter Schule“ und Weißenhof-Modernisten obsolet werden.

Vor allem ist der Band aber eine hervorragende Dokumentation des 1914 begonnenen und 1922 fertiggestellten Baus, der in der Architekturgeschichte in der Tat eine einzigartige Rolle einnimmt, vom Wettbewerb und der Planungs- und Baugeschichte über die Kriegsbeschädigungen und die Wiederherstellung durch Bonatz selbst bis zu seinem jetzigen bedrohten Status. Deutlich wird in Rosers Ausführungen nicht zuletzt auch Bonatz’ überlegtes Eingehen auf die spezifische Topografie und die städtebaulichen Prämissen Stuttgarts.

Die Bedeutung des gelegentlich als proto-nationalsozialistisch geschmähten Bauwerks und die Gefahr seiner Verstümmelung fassen treffend die Abrissgegner Robert Venturi und Denise Scott Brown in ihrem Kommentar zur Petition zusammen, der abschließend zitiert sein soll: „in the world of culture (…), Stuttgart will be seen as deserving the Attila the Hun award. And this will be the judgment of history. Not all historical architecture can or must be saved. Sometimes a partial demolition is supportable. Not so, we believe, in this case.“


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