Der ideologische Kampf um die Interpretation der Pariser Commune
Besprechung historischer Publikationen von Klaus RonnebergerArchiv sozialistischer Literatur
Pariser Kommune 1871. Berichte und Dokumente von Zeitgenossen
Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1969 [Erstveröffentlichung 1931]
446 Seiten, nur antiquarisch erhältlich
Dieter Marc Schneider
Die Pariser Kommune 1871
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1971
Teil 1: Bakunin, Kropotkin, Lovrov, 206 Seiten
Teil 2: Marx, Engels, Lenin, Trotzki, 196 Seiten
Nur antiquarisch erhältlich
Prosper Lissagary Geschichte der Commune von 1871 Stuttgart: Dietz, 1971 [frz. Original 1876] 466 Seiten, nur antiquarisch erhältlich
Helmut Swoboda Die Pariser Kommune 1871 München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1971 371 Seiten, nur antiquarisch erhältlich
Anlässlich des hundertsten Jahrestags der Commune erschien 1971 im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Büchern zu diesem Thema, teilweise in relativ hohen Auflagen. Dies stand nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Auswirkungen der 68er-Revolte, die gerade in der Bundesrepublik zu einem verstärkten Interesse an der Geschichte revolutionärer Bewegungen führte. So suchten die undogmatischen Strömungen der Neuen Linken nach Modellen von Selbstregierungsformen der Massen, die sowohl eine Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus als auch zum etatistisch-bürokratischen Realsozialismus darstellten. Bei diesen gesellschaftspolitischen Phantasien spielte die Pariser Commune ein gewichtige Rolle, die man als Beispiel für die Ausbildung rätedemokratischer Strukturen verhandelte. Für Marxist*innen-Leninist*innen lag hingegen das Scheitern der Commune auch an der Schwerfälligkeit basisdemokratischer Entscheidungsprozesse und der fehlenden Existenz einer zentralisierten Avantgardepartei.
Neben den Auseinandersetzungen zwischen den Antiautoritären und Orthodoxen wurde die Idee der Pariser Commune auch während der chinesischen Kulturrevolution (1968–1972) neu belebt, um die verknöcherten Hierarchien in den Partei- und Staatsapparaten in Frage zu stellen und zugleich den Revisionismus der sogenannten sowjetischen Renegaten anzuprangern, die das revolutionäre Erbe der Commune verraten hätten. Diese Argumentation bestimmte auch hierzulande das Narrativ der maoistischen K-Gruppen in den 1970er Jahren. Insofern war der Bezug auf die Pariser Ereignisse von 1871 innerhalb der damaligen Linken ideologisch sehr unterschiedlich codiert.
Die Besprechung der Literatur erfolgt in alphabetischer Reihenfolge. Alle Bücher sind nur antiquarisch erhältlich.
Es handelt sich hier um einen Reprint des Verlags Neue Kritik Frankfurt, programmatisch dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund nahestehend. Das Original, herausgegeben von Hermann Duncker, stellte damals die umfassendste Sammlung von Dokumenten aus der Commune-Ära im deutschsprachigen Raum dar, erweitert um Exzerpte aus der Memoirenliteratur von Zeitgenossen. Der Aufbau des Buches ist leider etwas unübersichtlich strukturiert: Originaltext und Kommentar (formuliert aus einer marxistischen Perspektive) gehen mitunter fast nahtlos ineinander über. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf Erlassen und Gesetzen der Commune, sowie Protokollen der Pariser Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation. Gerade unter diesem historischen Aspekt ist die Publikation immer noch lesenswert.
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Archiv sozialistischer Literatur
Pariser Kommune 1871.
Berichte und Dokumente von Zeitgenossen
Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik,
1969 [Erstveröffentlichung 1931]
446 Seiten
Anlässlich des 100. Jahrestages der Commune erscheint aus dem akademischen Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs ein aufwändig gestalteter Prachtband mit zahlreichen Photographien und Bildern, der umgehend vom Deutschen Verlag der Wissenschaften (DDR) übersetzt wird. 1971 finden auch mehrere Kolloquien von Historiker*innen aus der DDR und der französischen Republik zu diesem Thema statt. Man muss diese Publikation allein aufgrund ihres Materialreichtums und der vielfältigen historischen Quellen als ein Standardwerk über die Pariser Commune bezeichnen. Leider fällt aufgrund der marxistisch-leninistischen Orientierung der Autor*innen die Darstellung abweichender Strömungen (Anarchosyndikalist*innen, Anarchist*innen etc.) recht einseitig aus.
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Jean Bruhat, Jean Dautry, Emile Tersen
Die Pariser Kommune von 1871
Berlin (DDR): VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1971 [frz. Orig. 1970]
359 Seiten
In dieser zweibändigen Publikation werden wichtige Texte der sozialistischen und anarchistischen Klassiker zur Pariser Commune vorgestellt. Im ersten Band finden sich die einschlägigen Schriften der Anarchisten Michail Bakunin und Peter Kropotkin sowie Pjotr L. Lavrov (der an der Commune aktiv teilgenommen hat, aber im Vergleich zu den anderen russischen Sozialrevolutionären seiner Epoche weitgehend unbekannt blieb). Im zweiten Band geht es um entsprechende Text-Passagen von Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir I. Lenin und Leo Trotzki. Alle Schriften der Klassiker sind mit einem akribischen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehen. Zudem hat der Herausgeber Dieter M. Schneider kurze Einführungen zu den einzelnen Autoren und ihren ideologischen Positionen verfasst. Bis heute ein Standardwerk, wenn es um die theoretische Auseinandersetzung mit der Pariser Commune geht.
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Dieter Marc Schneider
Pariser Kommune 1871
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1971
Teil 1: Bakunin, Kropotkin, Lavrov, 206 Seiten
Teil 2: Marx, Engels, Lenin, Trotzki, 196 Seiten
Das Buch stellt einen Reprint der deutschen Übersetzung von 1877 dar, die leider etwas holprig ausfällt. Der Journalist und radikale Republikaner Lissagary war während der kurzen Commune-Ära zwar kein führender Kopf der aufständischen Bewegung, nahm aber aktiv an den Kämpfen teil. Nach seiner Flucht schreibt er im belgischen Exil zunächst detaillierte Schilderungen über die blutige Woche im Mai 1871. Auf Anregung von Karl Marx, zu dem er im näheren Kontakt steht, weitet er diesen Erlebnisbericht zu einer umfassenden Publikation über die Commune aus. Seine Schilderungen beruhen neben persönlichen Erfahrungen auch auf Berichten aus zweiter Hand. Mitunter wirkt sich der Detailreichtum der Chronologie für die heutige Leserschaft etwas ermüdend aus. Gleichwohl gilt dieser Bericht innerhalb der Memoirenliteratur als eine der wichtigsten Darstellungen der Commune und taucht in den einschlägigen bibliographischen Verweisen durchgehend auf.
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Prosper Lissagary
Geschichte der Commune von 1871.
Stuttgart : Dietz, (1971) [frz. Orig. 1876]
466 Seiten
Diese Sammlung von Dokumenten und Augenzeugenberichten schildert in chronologischer Anordnung den Ablauf der Ereignisse vom 18. März bis zum 28. Mai 1871. Es werden Texte und Dekrete, Maueranschläge, Aufrufe, zeitgenössische Reportagen und Memoiren von Anhänger*innen wie Gegner*innen der Commune sowie von unbeteiligten Beobachter*innen vorgestellt. Zudem verfasst Helmut Swoboda als Herausgeber eine knappe Terminologie von wichtigen Begriffen im Kontext der Commune. In dem Dokumentationsband gibt es zudem ein einführendes Kapitel von Heinrich Koechlin: Die Revolution vom 18. März 1871 (S. 19–36). Dieser Text vermittelt einen Überblick über die Vorgeschichte und den Ablauf der Commune. Zwar ist an manchen Stellen der damalige Zeitgeist des Antikommunismus deutlich spürbar, gleichwohl handelt es sich um eine instruktive Einführung aus einer konservativen Perspektive.
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Helmut Swoboda
Die Pariser Kommune 1871
München, Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1971
371 Seiten
Klaus Ronneberger, Stadtsoziologe, Schwerpunkt Stadt- und Raumplanung, Frankfurt