» Texte / Der Mann und die Großstadt – Otto Wagner in Paris

Andreas Zeese

Andreas Zeese ist Architekt, er lebt und arbeitet in Wien.


»Ich speciell kenne von modernen Stadtbildern nichts Schöneres, nichts Anheimelnderes, als den Anblick, den der 7000 m lange grandiose Strassenzug in Paris an einem schönen sonnigen Frühjahrstage gewährt, der mit der Place de la Concorde beginnt, durch die Champs Élysées, Rond point, Place de l’Étoile, [...] und sofort sich hin- zieht, erfüllt von einer wogenden Menge, mit all den zahlreichen Vehikeln.«
(Otto Wagner 1894)
Als Otto Wagner dies 1894 im Alter von 53 Jahren schrieb, war er – nach dem Ableben Friedrich Schmidts, Heinrich Ferstels und Carl Hasenauers – auf dem Weg zum wichtigsten Architekten Wiens. Mit seinem obigen Bekenntnis zu den künstlerischen Prinzipien der Pariser Stadtplanung bezog er eine Gegenposition zu den Vertretern eines »malerischen Städtebaus«, die die Stadt in der Tradition von Camillo Sittes 1889 erschienenem Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen vor allem als eine Abfolge von einzelnen wirkungsvoll geschlossenen Raumbildern verstanden. Der Blick in die französische Hauptstadt, deren Stadtbild bereits Heinrich Ferstel 1878 nachhaltig beeindruckt hatte (»ein Kunstwerk ersten Ranges«), diente Wagner zur Klärung und zur Veranschaulichung seiner Vorstellungen von einer ästhetischen Stadtanlage.
        Die Wahrnehmung Wagners in Frankreich wiederum war zu dessen Lebzeiten vor allem auf einige Großprojekte beschränkt; immerhin erhielt der Architekt 1901 im Nachgang der Pariser Weltausstellung das Offizierskreuz der Ehrenlegion und war später Mitglied der Zentralgesellschaft der französischen Architekten. Auf junge französischsprachige Architekten übte die Wagner-Schule um 1905/10 schon eine größere Faszination aus als der Meister selbst: Als der 20jährige Le Charles- Édouard Jeanneret (Le Corbusier) im Winter 1907/08 für einige Monate nach Wien kam, um bei Josef Hoffmann zu studieren, lehnte er Wagner als Erfinder eines »Stils voller Kälte, blanker Sauberkeit« ab, der durch seinen Verzicht auf sichtbare Dächer, Fensterteilungen und Verdachungen den »Ruf der Natur verachte« (Le Corbusier, Brief an Charles L’Epplatenier, 1908).
        Vor diesem Hintergrund stellt die erste monografische Wagner-Ausstellung in Frankreich eine interessante Konstellation dar. Ein Jahr nach den Wiener Jubiläums- schauen zum 100jährigen Todestag des Architekten 1918 widmet sich die Pariser Cité de l’architecture et du patrimoine dem großen österreichischen Architekten. Als Ko-Produktion mit dem Wien Museum durchgeführt (Kuratoren: Hervé Doucet, Paris / Andreas Nierhaus, Eva-Maria Orosz, Wien), bildet die umfangreiche Werkschau den Hauptbestandteil einer von November 2019 bis März 2020 laufenden »saison viennoise«. Denn zeitgleich präsentiert die Wiener Albertina unter der Überschrift Trésors de l’Albertina (»Schätze der Albertina«) in einem angrenzenden Ausstellungsbereich eine Auswahl ihrer Meisterwerke. Den mehr als fünf Dekaden des architektonischen Schaffens Wagners steht in der Pariser Cité damit ein Überblick über sieben Jahrhunderte der Architekturzeichnung mit Werken von Antonio Pisanello bis Zaha Hadid gegenüber. Abgerundet wird die Wiener Saison durch eine Reihe von Begleitveranstaltungen zu den Themen Wien als Hauptstadt Österreich-Ungarns und zum Jugendstil als europäischem Phänomen.
        Die Themen der Begleitveranstaltungen lassen bereits erkennen, dass die Ausstellung – neben ihrem Fokus auf Wagner – eine breitere Darstellung der Kulturmetro- pole Wien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Ziel hat. Dies dient einerseits der Einordnung des Wagnerschen Œuvres; andererseits rückt damit die Stadt Wien in den Fokus der Pariser Schau. Hiermit setzt man in der Cité – als Erweiterung der zugrunde liegenden Jubiläumsausstellung des Wien Museums aus dem Jahr 2018 – einen eigenen Schwerpunkt, um dem französischen Publikum die spezifische Wiener Situation um 1900 nahezubringen. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass etwa das Phänomen der Wiener Secession sehr grundsätzlich, ausführlich und hochwertig mit Ausstellungsplakaten, Ausgaben der Zeitschrift Ver Sacrum, einem Bozzetto der Marc-Anton-Gruppe oder Aquarellen von Olbrichs Entwurf für das Ausstellungsgebäude präsentiert wird.
        Insgesamt besteht die Ausstellung aus fünf Abteilungen, die Wagners Werdegang als Künstler, als Hochschullehrer und als Mitglied der Wiener Secession nachzeichnen und schließlich in einer umfassenden Präsentation seiner Hauptwerke münden. Ausführlich dokumentiert werden hier Wagners architektonische Musterlösungen in den Bereichen Kirchenbau (St. Leopold), Bürobau (Postsparkasse) und Verkehrsanlagenbau (Wiener Stadtbahn). Als größtes Vermächtnis präsentiert die Schau abschließend die vielfältigen Überlegungen des Architekten zur Reorganisation der Großstadt. Hier überrascht etwa ein Plan, den Wagner bereits zu Beginn der 1870er-Jahre – mit gerade einmal Anfang 30 – zur Schaffung eines modernen Verkehrsnetzes für die Großstadt Wien vorlegte. Wie 20 Jahre später bedient er sich dabei der natürlichen bzw. künstlichen Grenzlinien der wachsen- den Metropole und sieht das Wiental, die Ringstraße und den Gürtel für die Errichtung von Stadtbahntrassen vor.
        Weithin bekannt sind hingegen Wagners Überlegungen zur Neuorganisation der Metropole, die dieser 1911 in seiner kleinen Studie Die Groszstadt beschrieb. Diese Schrift – von den KuratorInnen als eine Quintessenz und als Vermächtnis von Wagners Denken präsentiert – ist in der Ausstellung sowohl durch eine originale Zeichnung des bekannten Stadtteilzentrums als auch multimedial mittels Exzerpten vertreten. Originell und sinnvoll in vermittlungstechnischer Hinsicht ist die Rekonstruktion des geplanten Stadtraums in Form eines virtuellen Rundgangs mithilfe eines Films, der – über die bekannte Darstellung des Luftzentrums hinaus – das von Wagner geplante Bild der neuen Stadtbezirke anschaulich und aus der Fußgängerperspektive verdeutlicht.
        Von besonderem Interesse ist eine Zusammenstellung der städtischen Wohnbauten Wagners, der zentralen Bauaufgabe des Architekten. Über einen Zeitraum von fast fünf Jahrzehnten entstanden, tragen die zahlreichen Zinshausbauten Wagners als Stadtbausteine auch heute noch maßgeblich zum Bild der Stadt Wien bei. In ei- ner Auswahl von guten Fotografien und grafisch aufbereiteten Grundrissen der Regelgeschosse lassen sich die Entwicklungs- und Gestaltungslinien nachvollziehen. Deutlich wird, dass es Wagner bei der inneren Aufteilung der Bauten – die Ausstellung spricht von simplen, wiederkehrenden Grundrisslösungen – nicht zuletzt um eine Maximierung der Flächen und der Mieteinheiten ging, während die Gestaltung der Fassaden ein wichtiges Experimentierfeld für Wagners stilistische Häutung vom Historismus zur »Baukunst unserer Zeit« darstellte.
        Hervorzuheben ist darüber hinaus der Fokus der Schau auf Wagners Interieurs und Einrichtungen, die – leicht erhöht – in einer Kombination von großformatigen Fotografien und ausgewählten Original- möbeln und weiteren Ausstattungsstücken wirkungsvoll gezeigt werden. Diese Präsentationsform zieht sich durch die gesamte Ausstellung und zeigt sowohl Wohnungseinrichtungen als auch die Ausstattung des Depeschenbüros der Zeit oder der Postsparkasse.
        Insgesamt zeichnet die hervorragend ausgestattete Ausstellung – darunter zahl- reiche Modelle – ein äußerst dichtes, hochinformatives und vor allem auch atmosphärisches Bild von Wagners künstlerischer Entwicklung. Die anspruchsvolle, schlauchartige Raumsituation im Sockel des Palais de Chaillot wird dabei fast kongenial genutzt und unterstreicht mit ihrer linearen Raumabfolge sinnfällig den im Rückblick stringenten Weg Wagners vom Architekten der Neorenaissance hin zum Vordenker einer »Modernen Architektur«, die den Anforderungen ihrer Zeit entspricht und diese künstlerisch sublimiert. Der gewählte Farbklang der intelligenten Ausstellungsarchitektur – pompejianisch-rot (Frühphase), weiß (Secession) und anthrazitgrau (Hauptwerke, Stadtplanung) – unterstützt dieses Narrativ atmosphärisch. Die räumliche Anordnung lässt damit auch die Secessionsphase als eine Zwischen- und Klärungsphase erscheinen.
        Letztlich wird deutlich, wie sehr Wagner die Großstadt formte und durchdachte. Seine Einzelbauten und seine Musterlösungen für neue großstädtische Bauaufgaben dienten ihm dabei als Entwicklungsschritte auf dem Weg zu Fragen der technischen, sozialen und ästhetischen Form des Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und des Anwachsens der Städte in einem Großteil der Welt (auch der westlichen) lohnt sich daher auch 100 Jahre nach Wagners Tod die Auseinandersetzung mit seinen Ideen – egal ob in Wien, Paris oder anderswo.


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