Dichte – Sezierung eines mehrfach reanimierten Begriffes
Besprechung von »Dichte. Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum« von Nikolai Roskamm»Living closer together« steht im Moment weit oben in der urbanistischen Agenda. Nach einigen Jahren, geprägt von Agglomerationsromantik, wird wieder verstärkt nach kompakten Stadtformen gesucht: »Ob für eine Neuinterpretation der Städtebaugeschichte, als ›Baustein der europäischen Stadt‹ oder als Element des Ideals der ›kompakten Stadt‹: Dichte ist in der derzeitigen städtebaulichen Leitbilddebatte sehr präsent, und zwar als ein mehrheitlich positiv moralisierendes Element. ›Dichte‹ gilt zum einen (wieder) als Kategorie von ›Urbanität‹, zum anderen und insbesondere als Garant einer ›nachhaltigen Stadtentwicklung‹, als Mittel gegen Flächenverbrauch, Energieverschwendung und unnötigen Verkehrsaufwand.«
Nikolai Roskamm hat diesen Umstand aufgegriffen und im Rahmen seiner Dissertation an der Fakultät für Architektur der Bauhaus-Universität Weimar eine Genealogie des Begriffs der Dichte in den für den Stadtdiskurs relevanten Wissenschaften erstellt.
Er beschreibt seine Herangehensweise als eine transdisziplinäre Dekonstruktion und stellt damit die Frage des Bedeutungsgeschehens, die Zuweisung von Bedeutungen in den verschiedenen Dichtetexten und Diskursen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Die Gebrauchspraxis der Dichte besteht für ihn aus einem komplexen In- und Nebeneinander der quantifizierenden und qualifizierenden Anwendungen des Begriffs. In sieben Kapiteln wird die Konstruktion anhand von Thematisierungen der Dichte in verschiedenen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Disziplinen dargestellt. Beginnend bei der Stadtsoziologie über die Sozialpsychologie hin zur Geographie werden maßgebende Begriffsverwendungen historisch und inhaltlich kontextualisiert. Darauf folgen die Kapitel zur Bevölkerungswissenschaft und zur Raumplanung. Den Abschluss bildet die Auseinandersetzung mit der Disziplin des Städtebaus, der sich angesichts der umfangreichen Debatten in zwei Kapitel — vor bzw. nach 1945 — gliedert. Letzteres ist betont knapp gehalten und gibt den städtebaulichen und architektonischen Dichtediskurs nur fragmentarisch wieder. Postmoderner Städtebau etwa wird nur kurz erwähnt, und digitale Methoden der Analyse und Planung werden hier nicht untersucht. Zwischen die Kapitel sind »Reflexionen« eingefügt, welche die Überschneidungen zwischen den verschiedenen Wissensgebieten thematisieren und auch weitere Aspekte hinzufügen. Das Buch verzichtet auf Abbildungen und beschränkt sich auf die Wirkungsgeschichte von Texten. Die gegenwärtig häufig vertretene These, dass Dichte nicht losgelöst von einem Bild der Stadt sowie deren konkreter Gestaltung betrachtet werden kann, wird vom Autor nicht behandelt.
Nikolai Roskamm hat seine Untersuchung auf den deutschsprachigen Raum eingegrenzt. Ein Umstand, der dazu führt, dass sich die Kapitel drei bis sechs intensiv mit der Entstehung des »Volk ohne Raum«-Konzepts und dessen Umsetzung während des Nationalsozialismus auseinandersetzen. In den ersten beiden Kapiteln überschreitet er allerdings die Beschränkung auf den deutschen Diskurs und beschreibt ausführlich die Arbeiten zu Dichte von
Louis Wirth und seinen KollegInnen an der Chicagoer Schule. Diese wurden ihrerseits maßgeblich von den Texten David Emile Durkheims beeinflusst. Dessen Begriff der Dichte ist Teil seiner Auseinandersetzung mit den Ursachen des Entstehens von »organischer Solidarität«. Er führte bereits 1893 die moralische Dichte als Grad der Arbeitsteilung und Indikator für den Entwicklungsstand der Gesellschaft sowie die materielle Dichte als Gradmesser für die beobachtbare Urbanisierung ein. An dieser Definition der moralischen (bzw. sozialen) Dichte lässt sich exemplarisch der ständige Bedeutungswandel, dem der Dichtebegriff unterliegt, darstellen. Für Durkheim war die soziale Dichte ein qualitatives Merkmal und gleich dem Ausmaß von Solidarität bezogen auf die Gesellschaft. Demgegenüber definiert die zeitgenössische Stadtsoziologie diese zumeist als Kommunikationsdichte und reduziert sie so als »Zahl der Interaktionen innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe« auf ein quantitatives. In der Folge wird auch noch ein aktuelles soziologisches Wörterbuch zitiert, welches soziale Dichte als »Verhältnis der Bevölkerung und der von ihr bewohnten Fläche« definiert.
Anhand dieses Beispiels lässt sich gut das Dilemma darstellen, in welches uns der Autor mit seiner detaillierten, kenntnisreichen und vielschichtigen Reise durch die Geschichte des Dichtebegriffs bringt. Dichte lässt sich nicht in ein kohärentes Konzept gießen – zu sehr liegen den Dichtediskursen komplexe und widersprüchliche Hintergründe zugrunde. Und dennoch handelt es sich bei Dichte um einen Schlüsselbegriff bei der Setzung von Diskursen, der Ausgestaltung von Normen und somit der Konstruktion von Wirklichkeit. Roskamm sieht in Dichte ein Konstrukt, dessen Analyse dafür prädestiniert ist, sich dem für die Sozial- und Planungswissenschaften so bedeutsamen Verständnis von Raum anzunähern. Zumindest ein erster Schritt dieser Annäherung ist dem Autor mit diesem Buch gelungen.
Markus Bogensberger