Die Entdeckung des Vernakulären als Zeichen der Politik
Besprechung von »Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung« herausgegeben von Anita AignerMit dem Buch Vernakulare Moderne hat die Herausgeberin Anita Aigner ein im Kunst- und Architekturdiskus bisher selten behandeltes Thema durch eine Reihe von Aufsätzen beleuchtet, und einen damit äußerst interessanten und lesenswerten Reader hergestellt, der damit auf dem besten Weg ist, eine Gedächtnis- und Bewusstseinslücke in der Rezeption der Genese der modernen Architektur aufzufüllen. Die Begriffswahl des Vernakulären beruht gewissermassen auf der Anwendung eines sinnvollen Kunstkniffes, um damit etwas ungestörter den Sachverhalt der Rolle des Bauernhauses in der Architektur beschreiben zu können, eine Fragestellung, die bis vor kurzem bei Anhängern der Moderne sofort heftige antivernakuläre Reflexe auslöst hätte, handelte es sich doch aus deren Sicht in diesem Zusammenhang um Heimatarchitektur, Lederhosenstil, falsche Folklore und dergleichen mehr.
Die Begriffsgeschichte des Vernakulären ist hochinteressant und durch Verschiebungen gekennzeichnet. Ursprünglich kommt der Begriff des Vernakulären von jenen Raum des Haussklaven (verna), der an das Haus gebunden war und beeinhaltet damit auch das Element des Einheimischen, allerdings im Sinne des Unfreien, des an die Scholle gebundenen Bauern. Diese Klassenperspektive kehrte sich jedoch im 19. Jahrhundert im Sinne ethnographischer Erkenntnisse und einer Neudeutung des Kulturellen um, aus der negativen Bewertung wurde etwas zunehmend Positives, Indigenes, Autochtones und meinte nun organisch gewachsene, vormoderne Bauformen, die auf die Existenz einer wertvollen einheimischen Kultur hinweisen, um sich von der aufoktroyierten Kultur der Besetzer oder Unterdrücker zu distanzieren. Es ist logisch, dass daraus eine historische Engführung aller Art von vernakulärer Architektur mit dem Nationalismus entstehen musste und das Vernakuläre bis zum ersten Weltkrieg nicht nur eine wichtige Rolle in der Baukultur im Sinne einer weitgehend unbestrittenen Qualität des Bauens spielte, sondern auch Teil der Volksidentität wurde, unabhängig davon, ob es sich dabei um Hoch- oder Volkskultur handelte. Nationale Emanzipation bedurfte nationaler Zeichen, das war die Formel aus der die Heimatarchitektur resultierte. Das Vernakuläre war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein politisches Zeichen des Fortschrittes im Sinne der nationalen Befreiung oder auch der Behauptung gegenüber anderen Ethnien und Völkern. Der Umstand dieser besonderen Form politischer Ästhetik führte naturgemäß zu komplexen Verwicklungen, unterschiedlichen Formen der Zu- und Ablehnung, auch unterschiedlichen Modi der Aufnahme in die jeweilige Hochkultur und deren Rezeption durch die Architektur.
Andrerseits geht es in diesem Buch – wie die Herausgeberin ausdrücklich betont - nicht vorrangig um die Dokumentation traditioneller Baukulturen oder um eine Kanonisierung einer am Vernakulären anknüpfenden Heimatstil-Architektur. Absicht der AutorInnen ist es, Prozesse der Sichtbarmachung, die verschiedenen Formen der Aneignung, Wertung und Verwertung, die mit dem bürgerlichen Gebrauch vernakulärer Bauformen einhergegangen sind, verstehbar zu machen, um zu erfahren, wie sie materiell adaptiert und in welchen Diskursen sie eingesetzt wurden. Denn es besteht ein verschlungener Übergang zur Moderne, der erst wieder zur Erinnerung gebracht werden muss.
Daher versucht die Anita Aigner auch die Anschlussfähigkeit des Vernakulären an die Moderne, bzw. den spezifischen Modus der Rezeption durch den Giganten Le Corbusier zu analysieren, der sich auch das Vernakuläre einverleibt hatte, um es in völlig neue, wenngleich nicht wiedererkennbare Formen zu transformieren.
Der Titel Vernakulare Moderne wurde aufgrund des Forschungsprogrammes zum* vernacular revival* eines UNESCO Projektes gewählt, dessen ursprünglich Absicht einer Arts and Crafts, später einer Art Nouveau Forschung schützenswerter Objekte schließlich zu einem Forschungsprogramm des Vernakulären geführt hatte, weil dieses als die zentrale Quelle der Jugendstil und Folkloremotive ausgemacht wurde. Ausgezeichnete Arbeiten englischer KunsthistorikerInnen zu diesem Thema wurden in der Architekturgeschichtschreibung bisher völlig ignoriert. Erst die Ostöffnung führte zu einem internationalen Dialog, weil nun etwa in der Erforschung des Vernakulären führende Länder wie Polen mit seinem Zakopane-Stil Vorbildwirkung erlangte und neue For-schungs--anstöße für die Nachbarländer gab.
Der Band versammelt Texte zur spezifisch österreichischen Situation von David Crowley, der über die Nutzbarmachung bäuerlicher Kultur in der österreichischen Monarchie schreibt, Elke Krasny, die einen damit verwandten Aspekt, nämlich die Gestaltung des Bauernhauses als Demonstration eines Binnenexotismus auf der Wiener Weltausstellung 1973 behandelt, Diana Reynolds, die über das Bauernhaus vor dem Hintergrund der Abspaltungstendenzen und Nationalitätenkonflikte in der Monarchie referiert; Georg Wilbertz berichtet über das Bauernhaus im frühmodernen Wiener Architekturdiskurs, Rainald Franz nimmt Stellung zu Josef Hoffmanns Villa Primavesi in Winkelsdorf in Mähren, während Vera Kapeller die Inspirationskraft des Bauerhauses in Böhmen und Mähren beleuchtet. Auch ein kurzer medialer Beitrag zur Rolle der Photographie ist durch Astrid Mahler gegeben. Ein weiterer Themenkreis erschliesst die deutsche Architektur: Beate Störtkuhl berichtet über die rhetorische Figur im Heimatstil von Hans Pölzig, Christian Welzbacher über Strategien der Identitätsbildung in der Weimarer Republik anhand des Deutschen Werkbundes, Maiken Umbach nochmals über den Werkbund, diesmal in seinem Spannungsfeld zwischen Heimat und Globalisierung. Anita Aigner schließt mit einem Übergang zur Moderne und Le Corbusiers Berufung auf das Vernakuläre. Hier ist das Vernakuläre nun das Autochtone, das Gewachsene, eher das Anthropologische als das Nationale und schon kann sich daraus eine Berufungsinstanz für für die Moderne (Le Corbusier, Loos) entwickeln. Wer seinen Blick über die Wurzeln der Moderne erweitern möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.