
Die ganze Welt ist Bühne
Besprechung von »Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik« von Richard SennettIn Shakespeares Stück Wie es euch gefällt gibt es den berühmten Monolog des Lord Jacques, der mit den Worten beginnt »Die ganze Welt ist Bühne«, um den ewig wiederkehrenden Ablauf des Lebens und der Welt zu kennzeichnen. Richard Sennett ist zwar nicht genau dieser Meinung, aber er kommt ihr nahe, wenn er die Welt- und Kulturgeschichte nach dem Kriterium der Performanz charakterisiert, denn er hat erneut ein gleichnamiges Buch geschrieben – Der darstellende Mensch – und beweist, dass er auch mit über 80 Jahren nicht willens ist, die Feder aus der Hand zu legen. In der Tat ist der Anteil der performativen Tätigkeiten im Weltgeschehen größer als man vermuten würde, auch weil Sennett diesen Aspekt mehr betont als üblich. Er greift zahlreiche Elemente, die er bereits in seinem früheren Werk behandelt hatte, wieder auf und versammelt sie zu einem Corso des Theaters, des Spiels und der Rolle von der Antike bis in die Gegenwart. Die Welt existiert nur, weil expressives Handeln möglich ist, der darstellende Mensch steht dabei im Zentrum.
Ausgangspunkt des Textes ist seine eigene Karriere als darstellender Künstler, zunächst als Cellist und Schriftsteller, die Rolle als Soziologieprofessor fällt hier auch irgendwie hinein. Sennett unterlegt daher seine Beispiele gerne mit musiktheoretischen Argumenten aus Klassik und Oper, unter anderem berichtet er auch über ein vierhändiges Klavierspiel mit Roland Barthes, der »leidenschaftlich und schlecht« spielte.
Sennett beginnt mit autobiographischen Erzählungen aus seiner Studienzeit in den frühen 1960er Jahren in New York an der Juilliard School, damals noch in Harlem. Ein Konservatorium für klassische Musik, an dem viele jüdische Emigrant:innen unterrichteten und in deren großen Wohnungen an der Upper West Side man Aschenbecher eines Cafés in München oder eine frühe Ausgabe von Novalis-Gedichten, die gerade noch ins Fluchtgepäck passten, finden konnte. In dieser Schule herrschte ein Treibhausklima; zum einen war da die Angst, zu einem Museum für klassische Musik zu werden und die Herausforderung der populären Kunst, zum anderen gab es neue politische Diskussionen durch die Bürgerrechtsbewegung. Besuche in Jazzkellern, in denen Bebop gespielt wurde, damals eine wenig populäre Stilrichtung, die sich vom eingängigen Swing des New-Orleans-Jazz mit komplexeren Harmonien und Brüchen absetzte, ließen ihn die Bekanntschaft mit guten Musiker:innen machen, die Bebop um seiner selbst willen spielten und nicht weil das Spiel sie bekannt machen würde. Sie bezogen aus ihren Darbietungen Kraft, auch wenn keine Nachfrage
danach bestand.
Aber zurück in die Gegenwart, was möchte Sennett damit sagen? Er teilt sein Buch in sechs Abschnitte, die jeweils einen Aspekt des darstellerischen Ausdrucks behandeln. Er beginnt mit der beunruhigenden und gefährlichen Macht der Darstellung, setzt mit den Orten der Darstellung – vor allem der Stadt – fort und geht der Frage nach, wie sich die Stellung von Darsteller:innen als eigenständige Personen herauskristallisierte. Im Gegensatz dazu bleibt die Rolle des Publikums noch ziemlich im Dunkeln. Es schließt die Frage an, ob sich diese durch würdigere Formen der Darstellung erhellen ließe. Zuletzt untersucht er, ob und wie Darstellung Politik und Alltagsleben erhöhen könnte.
Eindringlich startet das erste Kapitel Verstörende Darstellungen mit dem Zusammenhang von Theater und Ritual. Nach Victor Turner ging das Theater aus dem Ritual hervor. Zentraler Anlass ist der Tod. Das jüdische Trauerritual Kaddish gilt dem Trost. Sennett vergleicht es mit Theateraufführungen von AIDS-Kranken in New York, die durch ihre Performance angesichts ihrer Todesgeweihtheit Trost suchten. Theater und Spiel gehören zusammen, jeder Mensch lernt, verschiedene Rollen zu spielen. Daraus entwickelt sich eine auch moralische Ambiguität, da bestimmte Rollen schädliche Auswirkungen haben können. Auch die Frage der Rollendistanz wird wichtig. Wie weit soll die Identifizierung mit der Rolle gehen, was bedeutet das alles für mein Ich? Wie kann ich den Ausdruck des eigenen Selbst in eine Rolle übertragen, um Überzeugungskraft und Leidenschaft zu vermitteln? Das eigene Rollenspiel kann den Schauspieler auch zu echten Tränen führen und ihn mehr Trauer als beim Tod eines nahen Verwandten empfinden lassen. Aber sind Tränen überhaupt echt? Caravaggio malte in seiner Gefangennahme Christi einen weinenden Judas, der Christus zuvor verraten hatte.
Zum Thema verstörende Darstellungen erwähnt Sennett auch das Symbol der Hörner, die durch den Ex-Navy-Soldaten und selbsternannten Schamanen anlässlich der Stürmung des Kapitols weltweit Aufsehen erregten. Diese Erscheinung – halb Mensch, halb Tier – trug zu einer karnevalesken Stimmung vieler Festgenommener bei, die trotz ihres gewalttätigen Auftretens nicht einsehen konnten, dass sie veritable Straftaten begangen hatten. Nun ist es die Ironie der Geschichte, dass – während dieser Zeilen geschrieben werden – diese Verstörung durch die Begnadigung sämtlicher Beteiligter durch Donald Trump nochmals übertroffen wird.
Natürlich spricht Sennett auch von den Bühnen der Stadt. Neben der Agora streift er die verborgenen Bühnen, wozu er die Höhle des platonischen Gleichnisses zählt genauso wie die LCD-Technologie des Mobiltelefons. Letztere zählt zu den gefährlichsten, weil die Darsteller:innen nicht greifbar sind. Der Rückzug der Bühne von der Straße, wie Sennett ihn bereits in der Tyrannei der Intimität beschrieben hat, geht allerdings bereits seit Jahrhunderten vor sich. Es begann mit dem Teatro Olimpico in Vicenza, das die Realität der Straße leugnete, über das Globe Theatre von Shakespeare bis zu Hoftheatern wie in Celle. Im Gegenzug wurde die Straße zu einem Raum des Publikums und der Flânerie. Die riesigen Kaufhäuser des 19. Jahrhunderts erfanden neue Methoden der Warenpräsentation. Ein weiteres Kapitel behandelt die soziale Situation der Darsteller:innen und beruflichen Schausteller:innen. Erwähnenswert ist hier die Auflösung der Geschlechterrollen in der Praxis der Commedia dell’arte. Eigentlich ist es so, dass alle Spielarten des Politischen – auch die von Aktivist:innen oder sogar die von Terrorist:innen – Theatertechniken anwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Selbst Könige wurden dazu genötigt. Ludwig der XIV. führte als 16-jähriger Knabe und Hauptdarsteller ein dreizehnstündiges Ballett de la nuit auf, das mit Sonnenaufgang endete. Als Apoll drückte er seine künftige Rolle als Sonnengott nicht nur symbolisch aus, sondern demonstrierte auch seinen Machtanspruch. Sennett beobachtet auch Auseinandersetzungen zwischen Extinction Rebellion und Ayn-Rand-Anhänger:innen, die im Trump International Hotel in Washington eine Konferenz abhielten, in der sie den Klimawandel leugneten. Extinction Rebellion protestierte vor dem Hotel. Sennett analysiert die jeweiligen rhetorischen Strategien, indem er auch den Begriff des Klimanotstands kritisiert. Denn ein Notstand löst einen Verleugnungsmechanismus aus, der aus dieser unklaren Mischung von Faktenlage und Hilflosigkeit Verleugnung bewirkt.
Sein Argument lautet Zivilisiertheit. Er trifft sich am New Yorker Times Square im Algonquin Hotel mit Norbert Elias, dem Verfasser der berühmten Geschichte der Zivilisation, der Zivilisiertheit auch praktisch demonstrierte. So bedankte er sich für die Auskunft einer Fahrkartenkontrolleurin in der Subway, indem er mit einer höflichen Geste den Hut, seinen alten, auffälligen Homburger (Nachfolger der Melone) lüftete.
Richard Sennett
Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik
Hanser: München, 2024
32,90 Euro, 288 Seiten
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien sowie Redakteur von dérive – Verein für Stadtforschung; seit 1990 Dozententätigkeit an der Universität Wien (Soziologie) und anderen, u.a. Prof. an Bauhaus Uni Weimar.