Die Mobilmachung des Flaneurs
»Big City. New York Street Photography«, Ausstellung im Wien MuseumWir wissen, dass Walter Benjamin einzig den Flaneur für jemanden hielt, der in der Lage sei, einen objektiven Ausdruck für die Verhältnisse in der Stadt zu finden. Freilich musste sich auch Benjamin in dieser Behauptung auf den größten aller Stadtdichter, Charles Baudelaire, stützen, der das berühmte Porträt von Constantin Guys in Der Maler des modernen Lebens verfasst hatte, wo er den Maler-Flaneur als das Medium der Stadt bezeichnet, das tagsüber sein Leben in der Masse verbringt, seine Eindrücke körperlich aufsaugt und abends diese Bilder des Urbanen ins Werk transformiert. (Benjamin, Walter 1991: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Gesammelte Schriften, Band I/2, Frankfurt/M., S. 550)
Hätte Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis mit einem gültigen Visum für die USA in der Tasche nicht eine Herzattacke erlitten (oder Selbstmord begangen, die wahre Todesursache ist nicht mehr belegbar), weil er an der spanischen Grenze zurückgewiesen wurde, und hätte er sein Zielland, die USA, erreicht, so wäre er unmittelbar mit einer technischen Neuerung, der Erfindung der Kleinbild-Kamera nämlich, konfrontiert worden, die für den Flaneur eine neue Basis zur Darstellung der Verhältnisse geschaffen hatte. Die Street Photography eröffnete dem Fotografen/der Fotografin völlig neue Möglichkeiten. Sie bedeutete das Ende der Zeiten der statischen Aufnahmen mit schweren Geräten, nun war die Zeit der Schnappschüsse und der Jagd nach dem „entscheidenden Moment“ gekommen. Allerdings hatte Benjamin diese Möglichkeiten schon in seinem gegen Ende der 1930er-Jahre verfassten berühmten Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie vorausgesehen. „Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chok im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt.“ (Walter Benjamin 1972: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M., S. 93). Die Kleinbildkameras ermöglichten die schnellere künstlerische Verwirklichung eines Zentralprinzips der Moderne, der Verbindung des Transitorischen mit dem Ewigen. Das Einfrieren dieser Alltagselemente durch das Foto steht im Zeichen des Schockhaften, der plötzlichen Konfrontation mit den aus dem Strom des Alltagslebens herausgerissenen Elementen.
Auch spricht er ein weiteres Faktum an, das für die moderne Urbanität konstitutiv ist, die Stadt als Tatort. „Nicht umsonst hat man Bilder Atgets mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn und der Harunspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen? (Benjamin 1972, S. 93). In diesem Fall, dem der Stadt New York, wird der urbane Raum neu formatiert, indem er den Ort der Tat bestimmt. Aus der Masse spalten sich zwei Elemente ab, das Opfer und der Täter, die durch eine verbrecherische Handlung verbunden sind. Der Fotograf agiert mit der Suchbewegung des Detektivs, auch er befindet sich in der Masse und tritt nur für den Moment der Aufnahme heraus. Benjamin meinte den Tatort als Allegorie, Weegee meinte ihn konkret. Er war durch das Abhören des Polizeifunks oft noch vor dem Eintreffen der Polizei am Tatort, um die Leiche zu fotografieren. Their first murder ist ein Meisterstück im Einfangen der Massenstimmung, die zwischen Verzückung und Entsetzen oszilliert. Er und seine Kollegen Sid Grossman und Ted Croner vertraten progressive Ideen und dokumentierten die Lebensumstände sozial benachteiligter Gruppen. Das wichtigste Forum der sozialdokumentarischen Fotografie war die Photo League. Sid Grossman zeigt junge Teenager auf Coney Island, dem alten New Yorker Strandgelände, Ted Croner Straßenszenen.
Benjamin orientierte sich noch an den europäischen Meisterfotografen, die amerikanischen Fotografen hielten weniger vom geduldigen Warten auf Cartier-Bressons „richtigen Moment“, sondern sie erzwangen ihn, denn sie konnten dank der neuen Kleinbildkameras überall und jederzeit Bilder machen. Walker Evans fuhr viel mit der U-Bahn und trug seine Kamera unter dem Mantel versteckt. So gelangen ihm heimliche Fotos amerikanischer Hutträgerinnen mit dem unbeschreiblichen Ausdruck der von Georg Simmel als städtische Blasiertheit apostrophierten Haltung.
Ted Croner sorgte für die metaphysische Begründung des Mythos von New York mit einem Nachtstück eines nur von Lichtblitzen getroffenen Taxis. Bob Dylan verwendete dieses Bild später als Cover seines Albums Modern Times, wie auch das Wien Museum für diese Ausstellung. Saul Leiter zeigt ein gelbes Checker-Taxi, diesmal scharf und in Farbe. Leo Friedländer zeigt seinen Schatten auf dem Rücken einer toupierten Blondine, um die Verfolgerhaltung des fotografischen Detektivs ein für alle mal zu dokumentieren. Robert Frank fotografierte aus dem fahrenden Bus und überließ dem Zufall die Auswahl. Bei Garry Winogrand ging die Produktion schon ins rein Maschinelle. Hier kündigt sich schon der Übergang zur Filmkamera und zum Video an. Die mit Motor betriebene Kamera hatte es auf Unmengen hübscher Frauen abgesehen. Die berühmte Diane Arbus hingegen fotografierte ihre Sonderlinge noch frontal und mit Blitz.
Die im Frühjahr dieses Jahres gezeigte Ausstellung Big City, eine Eigenproduktion des Wien Museums, umfasste die große Zeit der Street Photography von den 1940er bis in die frühen 1980er-Jahre und zeigte die Mobilmachung des Flaneurs mit der Kamera, die sich innerhalb dieser Jahre vollzogen hat. Zu sehen waren rund 150 Bilder von Diane Arbus, Ted Croner, Bruce Davidson, Walker Evans, Louis Faurer, Robert Frank, Lee Friedlander, Sid Grossman, Charles Harbutt, William Klein, Saul Leiter, Leon Levinstein, Helen Levitt, Joel Meyerowitz, Tod Papageorge, Charles Traub, Weegee und Garry Winogrand. Als Ausstellungskurator firmierte Gilles Mora, weltweit anerkannter Fachmann der amerikanischen Fotografie und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema, der selbst das Ende dieser Ära der Fotografie konstatiert. Eine Ära, in der die Bilder noch wie Jazz klangen.
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Ausstellung
Big City
New York Street Photography
12. März bis 24. Mai 2009
Wien Museum Karlsplatz
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.