
Editorial dérive 101
Wie im letzten Editorial angekündigt, widmet sich auch das nun vorliegende Heft Nr. 101 dem Thema Zeit, diesmal unter dem Titel Rhythmen, Zyklen, Zeitregime. Ein Aspekt, der bei der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten der Stadt unumgänglich ist, aber trotzdem nicht oft im Fokus steht, ist die gesellschaftliche Alterung. Angelika Gabauer argumentiert in ihrem Artikel Zwischen Kontinuität und Wandel: Altern im Rhythmus urbaner Transformation »für die Perspektive einer doppelten Temporalität, um die Zeitlichkeiten des Alterns mit den Zeitlichkeiten des Stadtraums analytisch zu verschränken«.
Andre Krammer erweitert die Auseinandersetzung mit Fragen von Planung und Zeit, die wir im letzten Heft begonnen haben, mit einem Beitrag, der sich mit »Macht, Planung und Dissens in der Stadtentwicklung« beschäftigt. Eines der Modelle, die er dabei aufgreift, ist der in den letzten Jahrzehnten arg in die Kritik geratene Masterplan. Dieser passte »gut zum klassischen rationalen Planungsmodell«, dessen »Starrheit« mit einer Planung, die »von zeitbezogenen, schrittweisen und reaktiven Ansätzen geprägt ist«, jedoch zunehmend unvereinbar ist. Bei aller Kritik gerät jedoch oft in Vergessenheit, welche Möglichkeiten er im Vergleich zu einer vorrangig projektbezogenen Planung bietet.
1935, als die Produktivität noch weit geringer war als heute, hat Bertrand Russell den Text Lob des Müßigangs verfasst. Darin stellt er fest, dass es reichen müsste, am Tag vier Stunden Lohnarbeit zu verrichten, damit »jedermann genug zum Leben« hat. »[O]hne beträchtlich viel Muße bleiben dem Menschen viele schönste Dinge vorenthalten.« Simon Nagy, Autor des Buchs Zeit abschaffen, erzählt im Gespräch mit dérive, dass Zeitknappheit als Dauerzustand Ausgangspunkt für ihn war, sein Buch zu schreiben. Darin »geht es um die Reproduktion der Arbeitskraft, die Zerstörung von Alternativen zum Bestehenden, die Schwierigkeiten des Begehrens und die Frage, wie eine demokratische Planung aussehen könnte«.
Henri Lefebvre, Autor von 60 bis 70 Büchern, die allermeisten davon nicht ins Deutsche übersetzt, viele auch nicht
ins Englische, hat sich immer wieder nicht nur dem Raum, sondern auch der Zeit gewidmet. Im 1961 erschienenen zweiten Band von Kritik des Alltagslebens hat er begonnen, was er in späteren Publikationen immer wieder aufgriff: das Projekt Rhythmusanalyse. Claire Revol sieht Lefebvres Theorien zur Produktion des Raums durch seine Auseinandersetzung mit Zeit vervollständigt. Er skizziert, wie Revol in ihrem Beitrag schreibt, »eine rhythmusanalytische Versuchsanordnung,
die mit den Praktiken einer experimentellen Utopie in Verbindung gebracht werden kann«.
Mit seinem 1978 erschienenen Buch Grabe, wo du stehst! steht der schwedischen Schriftsteller Sven Lindquist am Beginn der Bewegung der Geschichtswerkstätten und einer Geschichte von unten, schreibt Stella Flatten in ihrem Text Graben als Methode – Partizipationsrechte und künstlerische Praxis im Kontext einer demokratischen Stadtplanung. Die Methode des Grabens ist in vielen Disziplinen wie Geologie oder Archäologie eine ganz konkrete, schweißtreibende Tätigkeit, in der Kunst ist sie zu einem »aktivistischen Bestandteil geworden, den Boden zu öffnen und zu befragen«. Der Boden »ist wie ein Archiv, das speichert und aufnimmt, ein Archiv dessen, was einmal war.«.
Teil des Schwerpunkts sind eine Reihe von Fotografien des Projekts Nine Buildings, Stripped, die Arbeiten des Künstlers Andreas Fogarasi dokumentieren. Fogarasis seit 2019 fortlaufendes Projekt zeigt urbane Veränderung über architektonische Oberflächen. Die Arbeiten sind »zeitübergreifende Porträts konkreter Orte und demonstrieren nebenbei die Zeit- und Ortsgebundenheit spezifischer Materialitäten«. Einen literarischen Beitrag zum Schwerpunkt verdanken wir dem Schriftsteller Hanno Millesi, von dem zuletzt der Roman Zur Zeit der Schneefälle erschienen ist. Ausgehend von einem Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen Gemälde von Canaletto, das einen Platz im ersten Bezirk Wiens zeigt, taucht er abwechselnd tief in die Betrachtung der (heutigen) Realität und ihrer rund 250 Jahre alten, künstlerischen Abbildung ein.
Aus ganz unterschiedlicher Perspektive setzen sich die beiden Kunstinserts mit ›Zeit‹ auseinander: Im Fokus von Johanna Tinzls Arbeit Das Archiv des Verschwindens steht das Schrumpfen und Schmelzen der Gletscher. Susi Rogenhofer widmet sich mit United Workers schon lange der (Un)Sichtbarkeit von Arbeit und rückt arbeitende Menschen ins Rampenlicht. Sicht- bzw. Unsichtbarkeit hat nicht nur mit dem Arbeitsort, sondern auch mit der Arbeitszeit zu tun. Gearbeitet wird rund um die Uhr.
Kein Teil des Schwerpunkts, aber auch eine Zeitreise, ist Judith Eiblmayrs Text über den österreichisch-US-amerikanischen Architekten Victor Gruen, den der Nationalsozialismus ins Exil vertrieben hat. Er gilt als Erfinder der Shopping-Mall, war aber auch, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ein Kritiker der autozentrierten Stadtplanung. Aus heutiger Perspektive bemerkenswert ist sein Interesse am Bauen mit Bestand.
It’s about time! ist der Titel des urbanize!-Festivals (urbanize.at) vom 14. bis zum 19. Oktober in Wien, das die Stadt dieses Jahr durch die Brille der Zeit betrachtet: Was hat Stadtplanung mit Zeitgerechtigkeit zu tun? Wie bestimmen ökonomische Zeithorizonte unseren Umgang mit Gebäuden und was heißt das für die CO2-Ziele? Wer hält unsere Stadt rund um die Uhr am Laufen und was kann eine feministische Zeitpolitik? Und überhaupt: Wo bleibt Zeit für urbane Muße? Das Festival gibt sich nomadisch und lädt an viele unterschiedliche Orte in der Stadt ein. Etliche Veranstaltungen können per Livestream verfolgt werden. Eröffnet wird in der grandiosen Zeitkapsel von Otto Wagners Postsparkasse. Join us!
Mit antifaschistischen Grüßen.
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.