Editorial dérive 102
Um unterschiedliche Aspekte von Zeit ging es in den letzten beiden Schwerpunktausgaben von dérive, die unserem
25-Jahre-Jubiläum gewidmet waren. Diesmal steht Spekulation im Fokus und auch sie ist eng mit Zeit verbunden. Spekulation kann genauso eine Wette auf die Zukunft wie eine vielfältige Methode sein, »um wohlinformierte Vermutungen oder Hypothesen darüber anzustellen, wie sich urbane Szenen, Territorien, Ökologien, Nachbarschaften oder Konflikte entwickeln könnten, und sollten«, so die beiden Schwerpunktredakteur:innen Anke Schwarz und Frank I. Müller in ihrem einleitenden Beitrag, der auch auf die einzelnen Beiträge des Schwerpunkts eingeht.
In dérive stand bisher die Kritik an der immobilienwirtschaftlichen Spekulation im Vordergrund und taucht in vielen Heften auf. Verwiesen sei etwa auf den grundlegenden Artikel von Susanne Heeg (dérive 40/41), in dem sie erläuterte, welche Folgen es hatte und hat, dass die räumlichen Grenzen der Spekulation »gesprengt« worden sind. Sie meinte damit, dass der Handel mit Immobilien, der für lange Zeit ein lokal begrenzter war, der vorwiegend durch lokalen Akteur:innen abgewickelt wurde, sich internationalisierte und globalisierte. Eines der Beispiele, das wir mehrere Jahre verfolgt haben, nicht zuletzt deswegen, weil es heftigen Widerstand dagegen gab, und uns besonders am Herzen liegt, war *Belgrade (dérive 59). Es ist ein Musterbeispiel für einen Investorenurbanismus, der in einem Projekt gleich reihenweise negative Aspekte vereint, die Themen kritischer Stadtforschung sind. Die von der Gruppe Ministry of Space initiierten Proteste haben, schon bevor es die aktuellen Demonstrationen gegen die serbische Regierung gab, Tausende regelmäßig veranlasst, gegen die Stadtpolitik auf Belgrads Straßen aufzubegehren.
Eine wichtige Analyse zum Thema Immobilienspekulation lieferte auch Anita Aigner (dérive 75) mit einer Kritik des Konzepts der ›Anlegerwohnung‹. Nach der Internationalisierung der Immobilieninvestments kam es zu einer nochmaligen Ausweitung. Nicht nur große Fonds und Immobilienfirmen sollten fortan von den überdurchschnittlichen Wertsteigerungen von Immobilien profitieren, sondern auch diejenigen, die ihre Ersparnisse bisher gewöhnlich auf einem Sparbuch anlegten. Dass in diesem Fall von ›Immobilienspekulation‹ weniger die kleinen Anleger:innen, sondern viel eher Banken, die diese Assets anboten, profitieren, war abzusehen und ist im Artikel von Anita Aigner nachzulesen. Bei aller Kritik an Spekulation sollte nicht vergessen werden, in welcher Tradition speziell die Kritik am Finanzkapitalismus steht, wenn sie auf »einem reduktionistischen Blick auf die kapitalistische Ökonomie, der aus den völkischen Diskursen um ›schaffendes und raffendes Kapital‹ [der] seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt ist« (Karin Stögner, Antisemitismus und Kapitalismuskritik), beruht.
Der Stadt- und Planungsforscher Christoph Sommer setzt im Magazinteil dieser Ausgabe mit einem Beitrag zu Planungstheorie und -politik eine lose Serie fort, die sich durch die letzten Ausgaben zieht. Im Mittelpunkt seiner Analyse steht die Entwicklung rund um die verbliebenen Freiflächen des Checkpoint Charlie in Berlin. Dort ist es zwar nach wie vor nicht gelungen, »einen dauerhaften Bildungs- und Erinnerungsort des Kalten Krieges zu etablieren«, die Voraussetzung dafür sieht durch einen Ankauf von zwei Teilflächen durch die Stadt Berlin nun jedoch eindeutig besser aus. Sommer spricht von einem planungspolitischen Erfolg, »der nicht zuletzt auf eine konfliktoffene Beteiligungspraxis zurückzuführen ist«.
Feiert man ein Jubiläum, fällt einem verstärkt auf, dass rundherum alle möglichen anderen Institutionen und Projekte ebenfalls runde Geburtstage haben. BIG ART, die Kunstinitiative der österreichischen Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) ist 20, was Ursula Maria Probst zum Anlass genommen hat, mit ihrer Leiterin Regina Barta und der Vorsitzenden des Fachbeirats Cornelia Offergeld über Aufgaben, Tendenzen und Entwicklungen von BIG ART zu sprechen.
Das Kunstinsert verdanken wir diesmal dem Künstler Leopold Kessler. Er hat die schöne italienische Tradition des Caffè sospeso, also der – neben der Bezahlung des eigenen Kaffees in einer Bar – freiwilligen Finanzierung eines oder mehrerer weiterer Kaffees für unbekannte, nachfolgende Gäste, in einer seiner Arbeiten aufgegriffen. Automat sopeso beruht auf demselben Prinzip, nutzt jedoch einen Kaffeeautomaten statt einer Bar als Vermittler.
Aus Freude über die ersten 100 dérive-Ausgaben haben wir unsere Grafikerin Anna Liska beauftragt, ein Plakat zu entwerfen. Es ist ganz wunderbar geworden und großzügig, wie wir sind, legen wir es neuen Abo- und Themenpaketbestellungen kostenlos bei.
Schöne Feiertage und ein gutes neues Jahr wünscht
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.