Editorial dérive 18
Das vorliegende Heft ist wieder eine Sampler-Ausgabe, die diesmal sehr unterschiedliche Blicke auf den Kosmos Stadt wirft.
Ulf Treger weist in seinem Artikel über Intimität, Gemeinschaftlichkeit und Offenheit in einer elektronischen Stadt auf Aspekte hin, die in der allgemeinen Angst vor Überwachung und Kontrolle gerne übersehen werden. So bieten die Anwendungsmöglichkeiten von Mobiltelefonen für japanische Jugendliche z.B. eine Chance „ihren Alltag und ihr soziales Netzwerk“ zu organisieren und dabei „unabhängig vom restriktiven sozialen und räumlichen Umfeld (...), unkompliziert und in Echtzeit eigene mobile Räume der Intimität und selbstbestimmten Kommunikation“ aufzubauen. Treger stellt die Frage, ob das dichotomische Modell Privatheit/Öffentlichkeit nicht bereits obsolet geworden ist und plädiert für eine kritische Begleitung der und eine aktive Einmischung in die „Entwicklung der verschiedenen, sich überlagernden Räume einer elektronischen Stadt“.
Angelika Psenner analysiert in ihrem Artikel Parterre – Wechselwirkung zwischen Erdgeschoß und Straßenraum in Wien die Misere der Erdgeschoßzone in Wien. Durch die aufgrund des enormen Bevölkerungszuwachses extrem dichte Verbauung in der Gründerzeit ist im Vergleich zu anderen Städten der Lichteinfall im Parterre sehr gering. Die engen Straßen erlauben nur schmale Gehsteige, die wiederum als öffentlicher Raum wenig attraktiv sind und die Leute nicht zum Schlendern verleiten, sondern sie eiligen Schrittes durchtreiben. Eine Benutzung des Parterres ist deswegen sowohl als Wohnraum als auch als Geschäftslokal in den meisten Straßen unbeliebt. Eine schreckliche Folge sind Kleinstgaragen, die sich in die Häuser graben.
Manfred Russo, diesmal in der Rolle eines ethnologisch informierten Touristen, reiste ins Kathmandu des Jahres 2060 und verfasste einen Reisebericht. Über Kathmandu und Nepal erfährt man abseits von Bergsteigerheldentaten hierzulande nur sehr wenig. Das gesellschaftspolitische Leben kann für die internationale Presse nur selten Meldungen liefern, in letzter Zeit taucht noch am ehesten die maoistische Guerilla auf, die ja sogar hierzulande auf einige hartnäckige UnterstützerInnen zählen darf. Russo gewährt uns einen Einblick in Architektur, Stadtplanung, Religion, Geschichte und Alltagsleben Kathmandus.
Benjamin Konrad und Maik Novotny haben mit den beiden (tschecho)slowakischen Architekten Stefan Svetko und Ivan Matusik Interviews geführt und setzen damit die lose Folge an Beiträgen über Bratislava in dérive fort. Das seltsame Verhältnis zwischen Wien und Bratislava - die beiden Hauptstädte liegen nur rund 60 km voneinander entfernt, trotzdem gab es seitens Wiens bisher kaum ein Interesse an der Nachbarstadt - ist zwar immer noch vorherrschend, das Interesse an der Architektur Bratislavas ist aber in jüngster Vergangenheit merklich gestiegen. Konrad und Novotny fragen sich: „(..) wo liegt zwischen erster Begeisterung seitens westlicher ArchitekturtouristInnen wie uns und jahrelanger Erfahrung sozialistischer Planungsrealität die objektive Qualität?“
Im Projektteil, der diesmal auch Cover und Backcover umfasst, werden das Forschungsprojekt Dietzenbach 2030 – definitiv unvollendet, die Veranstaltungsreihe firma raumforschung, das Center for Landuse Interpretation und Two Fabulous Journeys of a Fabulous Duo vorgestellt.
Wie immer gibt es zahlreiche Besprechungen, Kolumnen und eine neue Folge in Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität. Weiters hat sich eine neue Rubrik namens Shortcuts/Raccourcis/Kurz eingeschlichen, in der künftig Kurzmeldungen, Tipps und Hinweise zu lesen sind.
Der Schwerpunkt der nächsten Ausgabe trägt den schönen Titel „Wiederaufbau des Wiederaufbaus“. Das Heft erscheint Anfang April.
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.