Editorial dérive 29
Dass der inflationär gebrauchte Terrorismusvorwurf nicht immer begründet ist und vielen Sicherheitsfanatikern und Angstschürern allzu leicht über die Lippen kommt, ist für niemanden eine große Überraschung. (Die gleichzeitige Verharmlosung islamistischen Terrors als Widerstand oder moralisch gerechtfertigte Notwehr, die leider gerade innerhalb der Linken viel zu verbreitet ist, macht das Thema nicht gerade einfacher.) Dass jedoch Stadtforschung in Kombination mit der Verwendung von Begriffen wie Gentrification oder Prekariat und einer Abneigung gegenüber Mobiltelefonen kombiniert mit dem Nichtwissen, was Leute, die man trifft, in Ihrer Freizeit alles treiben (oder auch nicht), bereits ausreichende Verdachtsmomente sind, gegen jemanden einen Haftbefehl auszustellen, verschärft die Situation ein weiteres Mal und zwar ganz erheblich. All das trifft vermutlich nicht nur auf mich, sondern auf so manch andere dérive-LeserInnen zu.
Der Stadtforscher Andrej H. saß von 31. Juli bis zum 22. August 2007 in Berlin- Moabit in Untersuchungshaft, weil die Staatsanwaltschaft gegen ihn einen bis heute nicht aufgehobenen Haftbefehl ausgestellt hat und ihm nach dem berühmt-berüchtigten Paragraf 129a vorwirft, Mitglied der so genannten „militanten gruppe“ (mg) zu sein. Laut diversen Zeitungsberichten und Stellungnahmen dürften die Gründe für diesen Verdacht tatsächlich nicht viel umfassender sein, als oben beschrieben. Andrej H. wurde neun Monate lang observiert, sein Arbeitsplatz zweimal durchsucht, sein Computer und seine Unterlagen beschlagnahmt. Hält man sich vor Augen, was diverse InnenministerInnen – darunter auch der österreichische und der deutsche – an Überwachungsmaßnahmen (Stichwort: Online-Durchsuchung mittels Trojaner) planen, mag man sich die Auswirkungen im Falle einer Umsetzung gar nicht vorstellen. Informationen über die Verhaftung von Andrej H. finden sich auf zahlreichen Websites (Wikipedia, Telepolis, etc.). Die Möglichkeit zur Unterzeichnung einer Solidaritätserklärung gibt es auf der Website http://www.freeandrej.net.ms.
Diese Ausgabe von dérive widmet sich in ihrem Schwerpunkt dem Thema Transformation der Produktion und somit der veränderten Rolle, die Industrie für die und in der Stadt einnimmt. Näheres dazu im Einleitungsartikel von Erik Meinharter, der den Schwerpunkt redaktionell betreut hat.
Im Magazinteil bringt die neue Folge von Daniel Kalts Serie zur Kunst im öffentlichen Raum ein Interview mit den KünstlerInnen Angelo Stagno und Andrea van der Straeten, in dem sie über ihr Projekt vogelfrei sprechen. Thomas Ballhausen und Günter Krenn blicken in ihrem Beitrag über Propaganda und Ausstellungspraxis während des Ersten Weltkriegs in eine Zeit zurück, als die Leinwand ebenso wie städtische Orte der Unterhaltung in die polymediale Kriegspropaganda eingegliedert wurden. Wie angekündigt, ist in dieser Ausgabe der zweite und letzte Teil von Loic Wacquants Text Entzivilisierung und Dämonisierung zu lesen. Loic Wacquant hat – zu unserer Freude – dérive einige weitere Texte, die bisher noch nicht auf Deutsch erschienen sind, angeboten. Er wird uns also auch in Zukunft als Autor erhalten bleiben. Erstmals in dérive zu lesen ist ein Text von Hilary Tsui, die in Der Abriss des Star Ferry Piers über die nicht gerade sanfte Stadterneuerung Hong Kongs und den Widerstand dagegen berichtet. Manfred Russos Serie über die Geschichte der Urbanität begibt sich diesmal in die USA und analysiert die Utopie des Protestantismus. Mir bleibt eine interessante Lektüre zu wünschen und mich dafür zu entschuldigen, dass Platz und Zeit wieder einmal zu knapp waren, um allen Wünschen und Anfragen gerecht zu werden.
Das nächste Heft, dérive 30, bringt den Schwerpunkt Stadt im Film.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.