Editorial dérive 37
Wie bebildert man Migration? war eine der Fragen, welche die Produktion dieser Ausgabe von dérive lange begleitet hat. Von Anfang an war klar, dass wir keine stereotypen Bilder von randalierenden Jugendlichen, brennenden Autos, kopftuchtragenden Frauen, glutäugigen Kinderhorden, von Flüchtlingslagern, hermetisch bewachten Grenzen, von Märkten oder Restaurants von MigrantInnen reproduzieren wollten.
Eine der Thesen des Schwerpunkts Urbanität durch Migration geht davon aus, dass Migration eine Grundvoraussetzung für die Existenz von (Groß-)Städten darstellt und es deswegen höchst an der Zeit ist, dem Thema mit etwas mehr Gelassenheit gegenüber zu treten. Migration ist ein ganz alltäglicher, normaler, ja, für die positive Entwicklung von Städten überaus notwendiger Vorgang. Fast schon wären wir losgezogen, um das migrantische Erbe Wiens mittels typischer Postkartenansichten zu erfassen, und damit exemplarisch aufzuzeigen, welch hoher Anteil am heutigen, tourismusfördernd verkauften Stadtbild auf die Kreativität und Arbeit von MigrantInnen zurückgeht: So prägten beispielsweise ganze Heerscharen von italienischen Architekten, Maurern, Stukkateuren, Steinmetzen, Ingenieuren, Bankiers, Cafetiers, Ärzten, Dichtern, Musikern, Verlegern, Rauchfangkehrern und Predigern Wien über Jahrhunderte – und damit ist nicht die Gründung Wiens als römisches Lager Vindobona gemeint. (An dieser Stelle sei der nach wie vor wunderbare Ausstellungskatalog des Wien Museums Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien aus dem Jahr 1996 wärmstens empfohlen.) Was die Bebilderung betrifft, wählten wir letztendlich aber doch eine globale Perspektive: Die visuelle Geschichte des vorliegenden Schwerpunkts wird durch Stadtporträts erzählt: Von A wie Accra bis S wie Shanghai lauten die klingenden Namen der pulsierenden Metropolen, deren Lebensgefühl deutlich durch eines geprägt wird: Migration. Alles weitere zum Schwerpunkt in der Einleitung Keine Stadt ohne Einwanderung ab Seite 5.
Der Magazinteil versammelt Beiträge über Beirut, Linz und die Wiener Mariahilfer Straße, eine stark frequentierte Einkaufsstraße und ein beliebter Ort für Demonstrationen. Katharina Brichettis Bericht analysiert den umstrittenen Wiederaufbau von Beiruts Zentrum nach dem Bürgerkrieg, dessen Nachwirkungen die Politik der Stadt bis heute beeinflussen. Der Text bildet übrigens eine feine Brücke vom Migrations-Schwerpunkt dieser Ausgabe – „Von Ägyptern, Phöniziern, Persern, Griechen, Römern, Kreuzfahrern, Türken bis hin zu den Franzosen lassen sich historische Spuren finden“ – zum Schwerpunkt des kommenden Heftes, das sich soziologischen Analysen des aktuellen Städtebaus – Stichwort: Rekonstruktion und Dekonstruktion – widmen wird. Kunst-im-öffentlichen-Raum-Experte Daniel Kalt nahm sich diesmal Linz09 vor und stieß auf einige „bemerkenswerte Projekte (...), die im öffentlichen Raum Akzente für Kommunikation, Reflektiertheit und Dynamisierung setzen.“ Welche das sind, erfahren Sie ab Seite 43. Einer anderen Facette des öffentlichen Raums widmet sich Christof Mackinger unter dem Titel Konsum, soziale Kontrolle und Repression. Standortsicherung auf der Mariahilfer Straße, in dem er konstatiert, dass „direkte Repression noch immer ein wichtiger Teil der sozialen Kontrolle im öffentlichen Raum ist“. Als Beispiel dient dem Autor das Vorgehen von Polizei und Justiz gegen Anti-Pelz-AktivistInnen, die seit Jahren vor einschlägigen Geschäften demonstrieren. Der Autor selbst ist einer der Angeklagten im Prozess gegen die TierrechtsaktivistInnen, denen die Bildung einer kriminellen Organisation nach Paragraph a StGB vorgeworfen wird, und der die österreichische Öffentlichkeit bereits im Vorfeld beschäftigt hat – nicht zuletzt aufgrund der überlangen Untersuchungshaft für die Angeklagten.
In Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität, die bereits bei Folge 28 hält, steht der Boulevard „als Paradigma der kinetischen Utopie der Moderne“ im Mittelpunkt. Ein Thema wie geschaffen für die russosche Geschichtsschreibung, die bei Haussmann beginnt, Baudelaire ausführlich Raum gewährt, kurz bei Nietzsche und Marx vorbeischaut, Chaplin durch den Text watscheln und Le Corbusier über die Champs Elysées spazieren lässt, auf Hannah Arendt verweist, Marshall Bermann zitiert und auch auf Jane Jacobs nicht vergisst.
Die Präsentation dieser Ausgabe von dérive findet am 15. Oktober um 19 Uhr im Ragnarhof (Grundsteingasse 12, 1160 Wien) statt: Bei der Podiumsdiskussion zum Thema Einwanderungsviertel diskutieren Erol Yildiz und Kenan Güngör, die als Autoren bzw. Interviewpartner auch im Schwerpunkt des Heftes vertreten sind, der Stadtsoziologe Jens Dangschat und die Architektin und Stadtforscherin Betül Bretschneider, beide immer wieder AutorInnen in dérive, sowie die Raumplanerin Shams Asadi.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.