Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Die erste Ausgabe von dérive ist im Juli 2000 erschienen – ohne Marktanalysen und Zielgruppenbefragungen, ohne Businessplan und Marketingstrategie, dafür mit unendlicher Lust am Zeitschriften-und-Fanzines-Machen und einem breiten Interesse am Thema Stadt, das wir mangels befriedigender Alternativen ab sofort selbst zu stillen gedachten. Es gab keinen Verlag, keinen Vertrieb, kein Netzwerk und keine Institution, die uns organisatorisch oder finanziell unterstützt hätte. Die Druckkosten wurden privat vorfinanziert und dass die Arbeit ehrenamtlich war, verstand sich von selbst. Heute, nach zehn Jahren, investieren wir viel mehr Zeit in dérive und alles läuft professioneller ab, an unserer Unabhängigkeit und der Freude am Produzieren der Zeitschrift hat sich deswegen nichts geändert. (An der großteils ehrenamtlichen bzw. höchstens mit einer Aufwandsentschädigung bezahlten Arbeit übrigens leider auch nicht, wobei wir darauf mittlerweile leichten Herzens verzichten könnten – wer uns dabei unterstützen will, ist herzlich willkommen!)

Der Ansatz von dérive war und ist multiperspektivisch und interdisziplinär. Unser Ziel ist es, eine Zeitschrift auf hohem Niveau zu machen und gleichzeitig für interessierte Leser und Leserinnen aller Richtungen verständlich zu bleiben, auch wenn sie das einschlägige Fachvokabular nicht herunterbeten können. Das verstärkte Interesse, das Stadtforschung in den letzten Jahren erfahren hat, macht uns diese Aufgabe leichter, denn Termini wie Gentrifizierung oder Gated Communities muss man heute kaum noch erklären – vor zehn Jahren war das noch anders. Dieses Interesse hat auch auf deutschsprachigen Universitäten dazu geführt, dass Stadtforschung einen zunehmend wichtigeren Stellenwert einnimmt. Was für uns wiederum die spürbare Folge hat, dass die Zahl der Texte, die uns angeboten werden, ständig im Steigen begriffen ist und die Warteliste für die Veröffentlichung immer länger wird. Auf der einen Seite freut uns, dass viele, die rund um das Thema Stadt forschen, darüber in dérive berichten wollen, andererseits ist es für eine Zeitschrift, die viermal im Jahr erscheint, unmöglich, diesem hohen Interesse gerecht zu werden.

Seit einiger Zeit bauen wir deswegen an einer neuen Website: Sie wird die Möglichkeit eröffnen, mehr Texte (und in weiterer Folge auch andere Formate) zu veröffentlichen und diese durch Verschlagwortung für Leser und Leserinnen besser nutzbar zu machen. Diese neue Version der Website wird bald online gehen. derive.at wird dann weniger eng an den Inhalt des Heftes gekoppelt sein als bisher, es wird Texte geben, die im Heft nie veröffentlicht wurden, genauso wie aktuelle Meldungen und Hinweise aus der weiten Welt der Stadtforschung. Gleichzeitig wird das Archiv der dérive-Texte umfassender nutzbar und besser für das Web aufbereitet sein. Das alles stellt eine großartige Erweiterung der Möglichkeiten der bisherigen Website dar. Aber eigentlich wollen wir noch etliche große Schritte weitergehen. derive.at soll eine wirkliche Plattform für die weitverzweigte Stadtforschungs-Community werden, quer durch alle Disziplinen und offen für alle Formate der urbanistischen Auseinandersetzung, ein internationales Netzwerk jener Menschen, denen die Entwicklung des urbanen Raums ein Hauptanliegen ist. Bisher fehlt uns dafür das Geld und damit die Zeit, die vielen Ideen umzusetzen. Wer Interesse hat, sich an diesem Projekt in welcher Form auch immer zu beteiligen, als ProgrammiererIn, WebdesignerIn, Online-RedakteurIn, NetzwerkerIn, ImpulsgeberIn oder schlicht mit finanzieller Unterstützung, und uns damit hilft, schneller und besser voranzukommen, wird mit offenen Armen empfangen.

Im Zentrum unserer Tätigkeit steht aber nach wie vor die Zeitschrift dérive und das beweisen wir mit dieser 212 Seiten starken Jubiläumsausgabe, die den dreifachen Umfang einer normalen Ausgabe besitzt, nachdrücklich. Die Idee des vorliegenden Jubiläumsheftes war es, zu zeigen, woran Stadtforscher und Stadtforscherinnen heute aktuell arbeiten und welche Themen sie als relevant für die Zukunft erachten. Trotz des großen Umfangs können und wollen wir nicht den Anspruch erheben, einen kompletten Überblick zu leisten. Das ist schlicht unmöglich. Wir können aber sehr wohl behaupten, mit „Understanding Stadtforschung“ einen sehr umfassenden und interessanten Einblick in viele Forschungsdisziplinen, für die Stadtforschung von großer Bedeutung ist, zu bieten.

Die 26 Artikel, die im Heft versammelt sind, stammen von Forschenden aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die ich nicht aufzählen will und werde, weil wir die Grenzen der Disziplinen eher überschreiten als betonen wollen. Die Reihenfolge der Beiträge im Heft hat deswegen auch nicht das Geringste mit der Forschungsdisziplin zu tun, in deren Rahmen die Artikel verfasst wurden. Es empfiehlt sich, der Idee von dérive folgend, sich durch das Heft treiben zu lassen und nach Lust und Laune anzuhalten. Einige der Autoren und Autorinnen – Bernd Belina, Anja Schwanhäußer, André Krammer und Erik Meinharter – haben wir gebeten, auch über den derzeitigen Forschungsstand und die Forschungsfragen ihrer Disziplin zu berichten, um zu zeigen, was Stand der Dinge ist und in welche Richtung es gehen wird. Manche Artikel behandeln sehr spezielle Themen, darunter fällt etwa Stephan Lanz’ Beitrag über Neue Götter und Gläubige in der Stadt, der die Bedeutung neuer religiöser Gemeinschaften analysiert, oder Eyal Weizmans Text »Political Plastic«, der die Ermordung eines Hamas-Anführers in Dubai zum Anlass nimmt, sich Gedanken über die Elastizität und Neuorganisation von politischen Raumstrukturen zu machen. Andere, Marc Böhlen/Hans Frei, Manfred Russo und Klaus Selle, greifen klassische Themen der Stadtforschung auf – der öffentliche Raum darf hier natürlich nicht fehlen, entwickeln daraus jedoch ganz unterschiedliche Thesen, Perspektiven und praktische Vorschläge. Interessanterweise tauchen in diesen Beiträgen alte Bekannte wie Hannah Arendt ebenso wieder auf, wie sich (auch nicht mehr ganz) neue wie Bruno Latour immer stärker durchzusetzen scheinen. Mittels konkreter Projekte geben Andreas Novy und Sarah Habersack sowie Anne Spirn in ihren Texten Einblick in nachhaltige Wissensvermittlung zwischen Universitäten und Schulen. Da dérive auch über den deutschsprachigen Raum hinaus immer mehr an Stellenwert gewinnt, versammelt die Jubiläumsausgabe auch so bekannte Autoren und Autorinnen wie erstmals Saskia Sassen oder zum wiederholten Male Loïc Wacquant.

Einen breiten Ansatz haben wir nicht nur bei den Disziplinen, sondern auch bei den Textformen gewählt. Diese reichen von wissenschaftlichen Texten über Essays und einem manifestartigen Text von Stefano Boeri bis hin zu literarischen Texten von Herbert J. Wimmer und Thomas Ballhausen. Und wie immer gibt es nicht nur geschriebene Beiträge, sondern auch künstlerische Arbeiten, die sich mit Stadt, Öffentlichkeit und Urbanität auseinandersetzen. Zum Jubiläum sind gleich neun Kunstinserts zu sehen, was deutlich unterstreicht, wie wichtig wir die Rolle der Kunst für den Urbanismus-Diskurs erachten. Die KuratorInnen der Kunstbeiträge, Barbara Holub, Paul Rajakovics und Andreas Fogarasi, haben zu ihrer Auswahl und den KünstlerInnen und ihren Arbeiten einen einführenden Text verfasst, der auf S. 65 zu lesen ist.

Völlig neu an dérive – Sie werden es bereits bemerkt haben – ist die grafische Gestaltung. Atelier 1, das sind Anna Liska und Andreas Wesle, haben das bisherige Konzept von Andreas Fogarasi überarbeitet und weiterentwickelt. Wichtige Punkte waren dabei, die Lesefreundlichkeit weiter zu erhöhen und die Übersicht innerhalb des Heftes zu erleichtern. Wir finden das Ergebnis äußerst gelungen und hoffen, Ihnen geht es ebenso.

Die Präsentation von dérive 40/41 Understanding Stadtforschung findet am 1.10.2010 um 19 Uhr im Prechtlsaal der TU Wien statt. Die Veranstaltung bildet gleichzeitig den Auftakt zu unserem Stadtforschungsfestival urbanize!, das wir anlässlich des 10. Geburtstages aus der Taufe heben. dérive im Festivalformat bringt Filme, Lesungen, Stadtführungen und -spaziergänge, Diskussionen, Vorträge und selbstverständlich ein dérive, ein Durch-die-Stadt-Schweifen nach der Methode von laboratoire dérive, einer Gruppierung, deren Namen nicht nur zufällig Ähnlichkeit mit dem unserer Zeitschrift hat. Mehr zur laboratoire-dérive-Methode auf den Seiten 114/115. Die Programmübersicht des urbanize!-Festivals finden Sie auf Seite 3 und im Programmfolder, das ausführliche urbanize!-Programm mit allen aktualisierten Orten und Beginnzeiten auf www.derive.at.

Sie, geneigte/r Leser/in, fragen sich nun sicher, was Sie uns zum Geburtstag schenken können. Nichts leichter als das: Lesen Sie weiterhin dérive, empfehlen Sie uns Ihren Studenten und Studentinnen, Freunden und Freundinnen, verschenken Sie Abonnements und – urbanize!


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