Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Eine andere Vergangenheit ist möglich. ein anderes Bild der Vergangenheit lässt sich entwerfen. Die Publikation A Women‘s Berlin. Building the Modern City stellt dies nachdrücklich unter Beweis. Nur durch eine andere Einstellung des Blicks wird jene Sicht auf die Vergangenheit eröffnet, die zu neuen Einsichten führt. Die Stadtentwicklung Berlins ist eine andere gewesen als es herkömmliche Bilder und gängige Narrationen suggerieren. Werden die konventionalisierten Stadtgeschichtsschreibungen gebrochen, wird in die eingelernten Stadtbilder interveniert, dann kann jene andere historische Stadt freigelegt werden, die Berlin auch gewesen ist. In jene andere Stadt in der Stadt bricht Despina Stratigakos an der kritischen Schnittstelle von Architekturgeschichte und visueller Kultur auf. Durch minutiöse Recherchen in Archiven legte die Autorin jenes Berlin frei, das zwischen 1871 und 1918 von Frauen produziert wurde. Die Architekturhistorikerin Stratigakos, die als Associate Professor für Visual Studies und Architektur an der Universität von Buffalo lehrt und seit 2011 dort auch als stellvertretende Direktorin des Instituts für Research and education on Women & Gender tätig ist, verknüpft die Formation der modernen Subjektivität, der städtischen Subjektwerdung von Frauen ursächlich mit der Bau­Geschichte der modernen Stadt. Frauen werden als Produzentinnen von Stadt sichtbar, als Bauherrinnen, Planerinnen, Architektinnen, Journalistinnen, politische Aktivistinnen, aber auch Sozialreformerinnen, kurz als Akteurinnen der Stadtentwicklung. Bildung, Berufstätigkeit, finanzielle Unabhängigkeit, Mobilität, Organisation in Vereinen und Netzwerken, das waren die treibenden Kräfte, die Frauen zur Stadtentwicklung ermächtigten.
Auf dem Titelbild von A Women‘s Berlin. Building the Modern City, gestaltet von Sara Eisenman unter Verwendung einer Abbildung aus dem Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, sehen wir die Fotografie einer Frau, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte. Ihre Silhouette ist markant. Sie trägt einen ausladenden Hut, hat einen langen Rock an, unter dem ihre spitzen Schuhe hervorschauen. Sie steht hoch über den Dächern der Stadt und richtet ihren Blick auf das Häusermeer von Berlin. Sie steht auf dem Gerüst einer Baustelle und richtet ihre Kamera auf die Stadt. Sie macht Bilder. Sieht man sie heute, so wird sie zu einer visuellen Repräsentation dieser Stadt der Frauen, die Stratigakos im Berlin der Jahrhundertwende wieder entdeckt. Auch die Fotografin selbst ist aufgenommen worden. Sie wird zur Zeitzeugin und zum Dokument jener anderen Vergangenheit, die nur dann möglich wird, wenn ein Wissen über sie entsteht. eine andere Abbildung in diesem Band, der Illustrationen und Fotografien gekonnt als visuelle Argumente einsetzt, zeigt eine Bauarbeiterin. Sie trägt eine Kappe, unter der ihre kurzen Haare hervorschauen. Sie hat einen weißen langen Mantel an und einen ebenso langen schwarzen Rock. Sie hat eine Säge in der Hand. Auch sie ist hoch oben auf einem Gerüst. Wir sehen, dass sie Reparaturen auf dem Dach des Berliner Rathauses macht. Diese Fotografie stammt aus der Illustrierten Frauenzeitung Nummer 38 des Jahres 1910. Durch diese Bilder wird bewusst, wie die hegemoniale Macht die historischen Projektionen als patriarchal geprägte Vorstellungsräume aufgeladen und andere Erinnerungen verunmöglicht hat, die erst durch Women Studies, Gender Studies und kritische feministische Theorie wie Recherche wieder denkbar werden. Nun wird ein neuer urbaner Vorstellungsraum in der Geschichte mit diesen Bildern, durch die Archivmaterialien und Quellen eröffnet.
Wären diese Frauen, die ihre Wohnun­ gen und Schulen, Ausstellungshallen und Restaurants gebaut haben, mit Bildern und Vorstellungen in der Präsenz geblieben, wären sie mit der Geschichte der Stadt Berlin durch diese Geschichte weiterhin in der kollektiven Imagination mitgereist, dann würden die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in der Stadt der Gegenwart anders aussehen. Die Geschichte, wie wir sie hier zu sehen bekommen, hätte es sich verdient gehabt.
Von Charles Baudelaire über Georg Simmel bis zu Walter Benjamin oder Richard Sennett wurde die Geschichte der modernen Stadt als Geschichte von Männlichkeiten und ihrer Öffentlichkeit, verkürzt zur Geschichte der Moderne als Geschichte der Öffentlichkeit, konstruiert. In der Genealogie dieser geschichtswirksamen Konstruktion ist die von Frauen produzierte und gelebte Stadt marginalisiert, gelöscht, verschwunden.
In Stratigakos‘ Geschichte von Berlin wird die Modernisierungsgeschichte aus einer gänzlich anderen Perspektive erzählt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand eine neue Position von Weiblichkeit, die in den herkömmlichen Rollen nicht vorgesehen gewesen war. Diese Frauen mussten sich ihre eigene Stadt bauen, da es sonst für sie keinen Platz gegeben hätte. Diese selbstständigen unverheirateten Frauen, die studierten, die arbeiteten, fanden weder Wohnraum noch geselligen, kollektiven Raum in der Stadt, da sie als Lebensmodell schlicht nicht vorgesehen gewesen waren. Auf den damaligen Vermietungsannoncen war nicht selten zu lesen, dass alleinstehende Damen als Mieterinnen unerwünscht waren. Waren sie erwünscht, dann zahlten sie den Preis dafür – der war um vieles höher als für Männer, als für Familien, als für alle anderen. Diese Schwierigkeiten, der Mangel, die Probleme waren es, die den Grad der Kollektivität, der Selbstorganisation, des Zusammenhalts von Frauen erhöhten. Die Frauen, die Berlin bauten, schufen für sich das, was sie brauchten, Wohnräume für Studierende, Lehrerinnen oder Seniorinnen, aber auch soziale Treffpunkte mit eigenen Clubräumlichkeiten.
Was die Lektüre evoziert, ist der Wunsch nach mehr kritischen frauenspezifischen Stadtgeschichten wie dieser, A Women‘s Vienna, A Women‘s Los Angeles, A Women‘s Mumbai, A Women‘s Johannesburg, A Women‘s São Paulo ...


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