Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Rainer Pirker ist der Gewinner eines internationalen und prominent besetzten Städtebauwettbewerbs im chinesischen Shenzen. Im Interview sprechen der Architekt und seine chinesische Mitarbeiterin C. Chen über die städtebaulichen Konzepte ihres Projektes und ihre Erfahrungen mit der Praxis chinesischer Stadtplanung.

dérive: Wie ist es zu Ihren Projekten in China gekommen?

Pirker: Durch diverse Ausstellungsbeiträge, unter anderem für die von Hans Hollein kuratierte Ausstellung Austrian Art and Architecture and Design im Shanghai Art Museum 2001 und durch Vorträge in China kam es in weiterer Folge zu einer Gastdozentur an der South East University in Nanjing. Danach beauftragte mich ein privater Investor mit der Planung eines Privatmuseums. 2006 lud eine internationale Jury unter dem Vorsitz des japanischen Architekten Arata Isozaki, der als Berater des Planungsbüros in Shenzen fungierte, fünf internationale Büros aus siebzig Bewerbungen zu einem städtebaulichen Wettbewerb für das Guangming New Town Center ein. Wir waren unter den fünf Finalisten und haben schließlich gewonnen. Auf Grund der Unzufriedenheit mit einer Stadtentwicklung nach amerikanischen Muster in China, die sich extrem am Auto orientiert und zunehmend Verkehrsinfarkte und soziale Ghettos produziert, ist man bereit, umzudenken und neue Wege zu gehen.

Guangming New Town Center: Ausblick aus einem
Guangming New Town Center: Ausblick aus einem "urban vertical"

dérive: Was war Gegenstand des Wettbewerbs, und mit welchem Konzept haben Sie gewonnen?

Pirker: Gegenstand des Wettbewerbs war die Erstellung eines Masterplans für das 200.000 Einwohner zählende Guangming New Town Centre, Zentrum eines Entwicklungsgebietes für insgesamt ca 700.000 Menschen. Das neue, acht km² große Stadtzentrum soll gleichzeitig mit einer „High Tech Zone“ entstehen. Guangming New Town ist eine der vier wesentlichen Entwicklungszonen im Großraum von Shenzhen.

Wir verwenden eine abstrahierte Form des traditionellen chinesischen Hofhauses, des hutong, als Grundeinheit. Diese Grundeinheit kann in horizontaler und vertikaler Stapelung vielfältige Kombinationen ergeben. Diese Strategien – private ownership und stacked privacy – sind wesentlicher Bestandteil unseres Konzepts. Die Integration spielt auch eine wichtige Rolle, betreffend sozialer Aspekte, bestehender Siedlungsstrukturen, Landschaftselemente, aber auch der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite haben wir eine hohe städtische Dichte vorgeschlagen, und zwar in räumlicher und funktionaler Hinsicht. Es bedarf einer intensiven urbanen Struktur, um soziale Interaktion zu erlauben.

dérive: Sie meinen eine räumliche Dichte, die nicht auf Grund maximal verwertbarer Quadratmeter entstanden ist, sondern als eine Idee von städtischem Raum?

Pirker: Nicht nur räumlich gesehen, sondern auch von der sozialen Dichte aus betrachtet. Abstandsgrün aufgrund banaler Hochhaussiedlungen verhindert soziale Verdichtung. Natürlich mussten wir auch eine vorgegebene Dichte erreichen. Unser Konzept unterscheidet sich außerdem grundlegend von einer auf dem Auto basierenden Stadtentwicklung, die auch in China von bis zu 60 Meter breiten Straßen dominiert wird, die die Wohngebiete voneinander trennen. Ein Problem dieser Strukturen sind auch die immer gleichen Hochhauscluster, die nach abstrakten, technoiden Regeln errichtet werden und undurchdringliche Barrieren im Stadtraum ausbilden. Wir wollten eine Stadt entwickeln, die in einer Art evolutionärem Prozess entsteht und die für unterschiedlichste Aktivitäten Raum bietet, im Gegensatz zu einer überreglementierten Stadt, die keine Spielräume lässt. Um diese Wandelbarkeit zu erlauben, sind wir von einer in der Größe und Nutzung flexiblen Zelle ausgegangen, dem Hofhaus, das sich – horizontal und vertikal kombiniert – zu Gebäudestrukturen verdichten kann, ohne dass wir die einzelnen Gebäude im Detail konzipieren. Wir reden also nicht mehr über Gebäude im klassischen Sinn, sondern von Populationen und der Transformation von Zellen. Das Muster, das entsteht, ist nicht das Resultat einer Komposition von Gebäuden, sondern einer bestimmten Dichte und Anordnung dieser Einheiten. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass auch etwas Unerwartetes entsteht.

dérive: Es gibt aber doch auch eine Reihe von Regeln?

Pirker: Ja. Es soll Quartiere geben, die wir „urbane Teppiche“ genannt haben und für die wir Spielregeln für eine künftige Bebauung entworfen haben, so dass jeder Architekt, der zukünftig planen wird, die Vorgaben interpretieren kann und muss. Das ist ein wichtiger Aspekt, da ich glaube, dass Diversität nur entstehen kann, wenn viele Leute beteiligt sind. Gewisse Regeln sind aber wichtig, um Grundqualitäten für die Entwicklung zu sichern und das Feld nicht nur Developern zu überlassen. Diese Problematik besteht hier genauso wie in China. In China aber umso mehr, weil die Baulose üblicherweise viel größer sind. Städte entstehen heute normalerweise nicht mehr in einem langsamen, behutsamen Prozess. Ich habe in dem Projekt für Shenzen das erste Mal die Idee aufgegeben, in konventioneller Weise eine Stadt aus der Situierung von Gebäuden heraus zu entwickeln.

dérive: Gibt es ein spezielles ökologisches Konzept?

Pirker: Wir wollten eine Stadt enwerfen, die nicht autofreundlich, sondern fußgänger- und radfahrerfreundlich ist. Ein ökologisches Verkehrskonzept wurde in Zusammenarbeit mit Axis (Wien) entwickelt. Die Trennung von Ziel-/Quell-Verkehr und Transit-Verkehr spielt eine große Rolle. Die Quartiere sind untereinander mit Einbahnstraßen verbunden, die Loops ausbilden. Ein „urbaner Teppich“ ist etwa 1.000 mal 600 Meter groß und ist Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Man muss also nie mehr als etwa dreihundert Meter gehen, was eine akzeptable Distanz darstellt. Es gibt in unserem Konzept nur ein paar wenige Transit-Straßen. Aber auch die Nahversorgung und die Reduktion von Distanzen spielen eine große Rolle.

dérive: Zusätzlich finden sich vertikale Megastrukturen, die wie urban verticals in der Stadtlandschaft stehen.

Pirker: Ich würde nicht von Megastrukturen sprechen. Wir wollten die üblichen Hochhauscluster vermeiden, die Barrieren erzeugen und keine Orientierungspunkte anbieten. Eine markante Stadtsilhouette wirkt dagegen identitätsstiftend. Die Hochpunkte, die wir vorschlagen, sind an neuralgischen Punkten situiert, die gut an den öffentlichen und individuellen Verkehr angebunden sind. Unsere Hochpunkte sind an wenigen Orten situiert. Zu viele Hochhäuser an zu vielen Standorten würden das Verkehrsaufkommen potenzieren – das ökologische Gesamtkonzept ist mir sehr wichtig. Die chinesische Regierung ist sich auch bewusst, dass man Auswege aus der teilweise katastrophalen Umweltbelastung finden muss.

dérive: Sie arbeiten auch an einer Reihe von architektonischen Projekten in China – das Privatmuseum etwa haben Sie schon erwähnt. Unterscheidet sich Ihre Tätigkeit als Architekt in China von der als Stadtplaner?

Pirker: Die architektonischen Projekte sind oft mit schwierigen städtebaulichen Vorgaben behaftet. Das Grundstück für das angesprochene Museumsprojekt liegt zum Beispiel an etwa 60 Meter breiten Straßen. Es gibt 20 Meter „setback“. Die umgebende Bebauung ist noch nicht vorhanden, Daten dazu gibt es nicht. Man kann in der Planung kaum Bezüge zur Umgebung aufnehmen. Diese Inselzonen sind eine Folge der Stadtplanung nach amerikanischem Muster, auf die China in den letzten Jahren gesetzt hat.

Die ArchitektInnen Pirker und Chen beim Interview
Die ArchitektInnen Pirker und Chen beim Interview

dérive: China erscheint momentan als ein Labor, in dem eine Mischung aus Marktwirtschaft und Kommunismus entwickelt wird. Was ist von der kommunistischen Ideologie übrig?

Pirker: Ich habe den Eindruck, dass nicht viel übrig ist. Es ist weitestgehend eine Marktwirtschaft geworden, aber mit wesentlich weniger sozialer Absicherung als in Europa.

Chen: Es gibt immer noch die Partei, die die Entwicklungslinien vorgibt. Sie ist sich der Probleme durchaus bewusst. Der Markt entwickelt sich aber viel zu schnell, um ein soziales Netz im notwendigen Ausmaß zu knüpfen. Ich denke aber, dass die Regierung, wenn sich die ökonomische Situation stabilisiert hat, mehr Energie für soziale Aspekte und Fragen entwickeln wird und auch schon daran ansetzt.

Pirker: Die wirtschaftliche Öffnung Chinas nach außen war eine Notwendigkeit. Aber niemand hat erwartet, dass sie so schnell vor sich geht! Die rasante Entwicklung erzeugt natürlich viele soziale und ökologische Probleme; man denke nur an das Gefälle zwischen den großen Städten und den ländlichen Regionen. Shenzen war in den 1970er Jahren ein Fischerdorf.

Da Shenzen nahe an Hongkong liegt, beschloss man, es als ein Tor zum Westen aufzubauen. Heute leben im Großraum Shenzen rund elf Millionen Menschen, es gibt unzählige Intercity- und Stadtautobahnen. Diese Entwicklung, die auf der Schaffung einer technoiden, großmaßstäblichen Infrastruktur beruht, wurde in China zu einem oft kopierten Prototyp.

dérive: Sie kennen sowohl China als auch Europa. Würden Sie sagen, dass es hier bei uns falsche Vorstellungen über China gibt?

Chen: Ja, alle sprechen darüber, dass China keine Demokratie hat. Wenn Sie die Geschichte Chinas studieren, zum Beispiel den Konfuzianismus, dann sehen Sie aber, dass es in China niemals so etwas wie Demokratie gegeben hat. Diese kulturellen und philosophischen Hintergründe haben die Menschen stark in ihrem Denken beeinflusst. Sie wollen eine vereinigende, konzentrierte Macht. Mit einem Mehrparteiensystem haben wir keine Erfahrung. Die momentane Entwicklung verbindet aber das westliche demokratische Denken mit der kulturellen Tradition Chinas – vielleicht ist das ja ein Weg!

dérive: Was ist Ihr Eindruck von den Bauvorhaben anlässlich der Olympischen Spiele in Peking? Wird Peking von den vielen Star-ArchitektInnen, die für die Spiele bauen, völlig umgebaut?

Pirker: Die großen Veränderungen haben in Peking schon vor Jahren stattgefunden, als man begonnen hatte, riesige Hauptstraßen durch die Stadt zu legen, wodurch auch viele der alten hutongs zerstört wurden. Die Bauten, die jetzt errichtet werden, können die Grundstruktur der Stadt nicht mehr so stark verändern.

dérive: Können wir etwas von China lernen?

Pirker: Für mich ist China sowohl faszinierend als auch schockierend. Unser Engagement in China ist durchaus ein Experiment. Man wird sehen, wie es sich entwickelt. Ich sehe China aber nicht als Labor-Situation, und ich bin mir sicher, dass auch die chinesische Regierung das nicht so sieht. Es geht wie überall um verantwortungsvolle, nachhaltige Planung. Aus der Auseinandersetzung mit der Kultur und völlig anderen Denkmustern kann man auf jeden Fall viel lernen, egal wie dieses Experiment ausgeht.


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