Ein Stadtteil in privater Hand
Graz-Reininghaus liegt 800 m vom Stadtzentrum und zwei Kilometer vom Uhrturm entfernt. Mit 50 ha – das entspricht etwa der halben Größe des Grazer 1. Bezirks – stellt das Grundstück gegenwärtig die größte zentrumsnahe Stadtentwicklungszone Österreichs dar. Auf dem ehemaligen Brauereigelände ist ein privat finanzierter Stadtteil für rund 12.000 Menschen geplant.
Vom Brauereiunternehmen zum neuen Stadtteil
Peter Reininghaus war ein Freund und Förderer Peter Rosseggers und stand dem 1855 gegründeten Brauereiunternehmen „Brüder Reininghaus“ vor, das nach einer Zwangsfusionierung mit der Brauerei Puntigam 1944 unter dem Namen „Brau AG“ lief. Die Reininghausgründe sind ein Teil der ehemaligen Brau AG. Schon 1973, nach dem Tod von Peter Reininghaus, begann ein Nachdenkprozess, was mit einigen nicht genutzten Flächen, darunter die Reininghausgründe, passieren sollte. Erst Anfang der 1990er Jahre gab die Stadt Graz eine Verwertungsstudie in Auftrag, deren etwas schwammiges Ergebnis einen „neuen Kulturstadt-Teil“ anregte. Andere Vorschläge, die in der Stadt kursierten, umfassten eine Fachhochschule, 2002 und 2006 das Olympische Dorf für Winterspiele (die dann bekanntlich nicht in Graz veranstaltet wurden), einen „Wonder World of Music“ Themenpark (ein Erlebnispark in Form einer Geige mit IMAX Kino und einer Veranstaltungshalle für jährlich 600.000 BesucherInnen), einen Sport- und Freizeitpark mit Testlaufstrecke inklusive Fitnessparcours und Sporthotel sowie einen Business Park. Die Akademie der Wissenschaften schlug einen Teilchenbeschleuniger vor. Nichts von dieser Liste wurde umgesetzt.
2003 wurde die Brau AG an Heineken verkauft und die nicht betriebsnotwendigen Güter samt den Reininghausgründen an den Investor und Immobilienentwickler Ernst Scholden und dessen Immobilienfirma Asset One AG, die eigens gegründet worden war, um österreichweit die Flächen aus dem Besitz der ehemaligen Brauunion zu verwerten. Die größte private Stadtentwicklung Österreichs wurde 2006 mit einem von der Asset One initiierten Nachdenkprozess gestartet, in der Publikation Konzeptionen des Wünschenswerten im Czernin Verlag stellten 32 GrazerInnen ihre Wunschprojektionen für das Areal vor. Kein „Masterplan“ mittels Wettbewerbsentscheidung wurde als zielführend erachtet, sondern ein verlangsamter Findungsprozess unter Teilnahme diverser Persönlichkeiten aus der Fachwelt, der Politik, der Kultur und der Wirtschaft. In der denkmalgeschützten Industriearchitektur, die einen kleinen Teil von Graz-Reininghaus (so der gegenwärtige Projektname) prägt, finden seither Veranstaltungen und Symposien statt. Vom Veranstaltungssaal blickt man in die Landschaft, die einmal von einer brauereieigenen Landwirtschaft geprägt war, die so viele Menschen beschäftigte, dass es ein reges Dorfleben gegeben haben soll. In der Ferne kann man die angrenzende Fachhochschule Joanneum und das Gebäude des Flaggschiffs des Grazer Humantechnologieclusters Roche Diagnostics erkennen.
Kollektives Brainstorming statt festgelegtem Masterplan
Die Asset One AG wirbt mit dem Konzept eines urbanen Stadtteils und will sich sehr viel Zeit lassen, um aus einem kollektiven Brainstorming heraus, eine – wie sie sagt – nachhaltige Stadtstruktur zu entwickeln. In ihren Webauftritten, Broschüren und Pressemitteilungen wird konsequent das Leitbild „Urbanität“, „Nutzungsvielfalt“ und eine angestrebte hohe „Ereignisdichte“ nicht ohne Pathos und noch mit einiger Unschärfe propagiert. Eine städtebauliche Intendanz unter der Führung von Kleboth, Lindinger und Partners (Städtebauliche Gesamtkonzeption) und dem Architekten und Städtebauer Max Rieder (Projektleitung) wurde eingerichtet, die in einer laufenden Konzeptphase „Stadtszenarien für Graz Reininghaus“ anhand so genannter „Stadtbausteine“ wie „Grünraum“, „Mobilität“ und „Nutzungsvielfalt“ entwickeln soll. Parallel wurde am 1. und 2. Juli 2008 ein Symposium abgehalten, zu dem internationale „Stadtvordenker“ wie Joan Busquets (Barcelona/Harvard), Erick van Egeraat (Rotterdam), Andres Duany (Miami), Vittorio Lampugnani (Zürich/Mailand), Dietmar Leyk (Berlin), Philipp Oswalt (Berlin/Kassel) und Kazunari Sakamoto (Tokyo) geladen waren. Diskutiert wurden die Parameter, die international funktionierende Stadtstrukturen hervorgebracht haben, sowie die Frage, wie heute überhaupt noch Form, Milieu und Raum gesteuert werden können, um ganzheitliche Stadtgefüge zu erhalten. Die Ergebnisse und Ansätze der TeilnehmerInnen – die im Vorfeld schon in Konsulenteninterviews festgehalten wurden – wurden in einer öffentlichen Präsentation vorgestellt und in einem Pressegespräch, zu dem auch VertreterInnen der Stadt geladen wurden, zur Diskussion gestellt. Betont wurde die Notwendigkeit einer langfristigen Projektbetreuung, die nicht mit der Verabschiedung eines Masterplans im Gemeinderat enden könne. Konsens unter den eingeladenen „Stadtvordenkern“ herrschte auch über die Notwendigkeit, einen neuen Typ von Masterplan zu entwickeln, der die Flexibilität besitzen müsste, auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können.
Damit wurde aber auch ein Dilemma angesprochen, das gegenwärtig Stadt-StrategInnen, die sich als progressiv verstehen, plagt. Einerseits soll eine Dynamik künftiger Entwicklung, in der auch Unvorhergesehenes und Ungeplantes Platz finden soll, durch neue, offenere, prozessorientierte Masterpläne gefördert werden. Masterpläne, die kein fertiges Bild propagieren, sondern nur ein Grundgerüst definieren. Andererseits führt diese Offenheit auch oft zur Mittelmäßigkeit und zur Unschärfe. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die historische Städte hervorgebracht haben, existieren heute nicht mehr. Und Simulation ist ein prekäres Geschäft. Auch der Architekt Kazunari Sakamoto warnt in seinem Interview davor, alte Städte kopieren zu wollen.
Das Projekt „Urbanität“
Man kann gespannt sein, wie in der Weiterentwicklung des Projekts „Urbanität“ festgemacht und auf den Weg gebracht wird. Die „Urbanität“, die etwa vom amerikanischen New Urbanism gemeint ist (Andres Duany gehört zu den Gründungsvätern), wurde nicht von ungefähr auf Grund der Erfahrung mit realen Umsetzungen wie den Stadt-Neugründungen Celebration oder Seaside in Florida kritisiert. Auf die keimfreie Urbanität, die auf einem Übermaß an Regulation und städtebaulichen und architektonischen Codes basierte, wurde von KritikerInnen zu Recht hingewiesen. Das urban village, das von den VerfechterInnen des New Urbanism propagiert wurde, setzte der modernen Großstadt eine doch sehr künstliche Kleinstadtidylle entgegen.
Es ist zu hoffen, dass der Entwicklungsprozess eine Eigendynamik erhält, die eine Konsequenz der angefangenen öffentlichen Diskussion sein könnte. Dafür braucht es auch weiterhin den Dialog mit einer kritischen Öffentlichkeit. Joan Busquets, der 1983–1989 Leiter des Stadtbauamtes in Barcelona war, betonte, dass gute Stadtentwicklung nicht eine Frage von privater oder öffentlicher Steuerung sein dürfe. Natürlich besteht auch ein legitimes Interesse der Asset One AG, eine Wertsteigerung des Grundstücks durch gesteigerte Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Einbindung der Stadt Graz, vor allem hinsichtlich eines innovativen rechtlichen Rahmenswerks in Unterstützung künftiger Masterpläne, wird entscheidend sein, um künftige Einzelinvestoren und Bauträger auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören. Nur so werden sich einzelne Bauwerke einem größeren Ganzen unterordnen. Die Anbindung von Graz-Reininghaus an das öffentliche Verkehrsnetz wird der Schlüssel dazu sein, das Areal im Grazer Kontext zu verorten und Formen des Austausches mit der Stadt und der Region zu ermöglichen. Versuche, ein autonomes zweites Zentrum in Ergänzung zum alten Stadtkern zu etablieren, sind auch schon andernorts gescheitert. Die Rolle in der Gesamtstadt muss also erst gefunden werden. Eine weitere „Insel“ in der Stadtlandschaft wäre keine wirkliche Innovation. Ein „magischer Stadtraum“ (Lampugnani) in Graz wäre allerdings sehr wohl eine spannende Ergänzung zum architektonischen Fetisch „Kunsthaus Graz“.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.