Einleitung dérive 84
Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte veröffentlicht. Eine Gesellschaft vor Augen, die jedem und jeder ein Leben frei von Existenzängsten und in Würde bietet, die es ermöglicht, selbstbestimmt ein individuelles Leben in Freiheit zu führen und als Teil der Gesellschaft diese kollektiv mitzugestalten. Eine Gesellschaft ohne Ausschlüsse und Abhängigkeiten, aber mit der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für Erreichtes einzustehen und dem gemeinsamen Auftrag, sie in einem permanenten Prozess weiterzuentwickeln. Heute den finalen Zustand einer idealen Gesellschaft zu konzipieren, ist weder möglich noch wünschenswert. Deswegen sehen wir es als Aufgabe, aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen, ebenso wie aus dem Fokus geratene oder verdrängte Konzepte erneut zu diskutieren, wenn sie das Potenzial in sich tragen, unser Denken und Handeln zu inspirieren.
150 Jahre ist es her, seit die Stadtbevölkerung von Paris die Kommune ausgerufen hat. Wir zählen sie zu den erwähnten aus dem Fokus geratenen Ereignissen, über die heute nur Wenige genauer Bescheid wissen, woran selbst das Jubiläum trotz einiger erschienener Artikel, Publikationen und Radiosendungen nicht viel geändert hat. Die Pariser Commune war eine urbane Revolution, in der, obwohl sie für uns ein unbestritten historisches Ereignis ist, Fragen verhandelt wurden und Konstellationen gegeben waren, die tatsächlich immer noch aktuell und relevant sind.
Vorausgegangen war ihr der grundlegende Stadtumbau von Baron Haussmann unter der Ära von Napoleon III., der, begleitet von einer großen Spekulationswelle, viele Altbauquartiere im Zentrum dem Erdboden gleichmachte und Teile der Arbeiterschaft in die Peripherie verdrängte. Als Reaktion auf diese sozialräumliche Restrukturierung kam es zu heftigen Protesten von Seiten der Linken. Vorausgegangen war der Commune eine Periode der liberalisierten Versammlungsfreiheit in der Spätphase der Kaiserzeit, die eifrig genutzt wurde, um lautstark die Verhältnisse zu kritisieren, über Forderungen und politische Ideen zu diskutieren, sich zu organisieren und gemeinsame Anliegen zu erkennen. Vorausgegangen war ihr auch der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), den Napoleon nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen vom Zaun gebrochen hatte. Die lange Belagerung von Paris hatte entscheidend zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der Hauptstadt beigetragen, die letztlich zur Ausrufung der Commune führte.
Die Commune hatte große, beeindruckende Pläne, die kurze Dauer von nur 73 Tagen und die äußerst schwierige Situation durch die Belagerung und die Angriffe durch die Versailler Armee (siehe Ronneberger in diesem Heft) machten es allerdings fast unmöglich, diese auch nur ansatzweise umzusetzen. In einem Manifest formulierte der Rat der Commune sein Selbstverständnis und seine Vorstellungen: »Die Anerkennung und Festigung der Republik, der einzigen Regierungsform, die mit der gesetzmäßigen und freien Entwicklung der Gesellschaft vereinbar ist; die auf alle Gemeinden Frankreichs ausgedehnte unbedingte Selbstverwaltung der Kommune, jeder die Unverletzlichkeit ihrer Rechte und jedem Franzosen die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten und Anlagen als Mensch, Bürger und Arbeiter sichernd. [...] Das Ende der alten gouvernementalen und klerikalen Welt, des Militarismus, der Bürokratie, der Ausbeutung des Börsenwuchers, der Monopole, der Privilegien, [...] (zit. nach Bruhat et al. 1971, S. 164). Manche Maßnahmen konnten rasch umgesetzt werden: so wurde ein zeitweiliger Mieterlass verkündet, um die Kriegslast gerechter zu verteilen, leerstehende Wohnungen wurden an vom Krieg Ausgebombte vergeben. Fälligkeitstermine für Schulden wurden verlängert, die Rückgabe verpfändeter Güter angeordnet und das Bildungswesen von der Kirche getrennt.
Interessant an der Commune ist, wie Roger V. Gould (1995) in seiner Untersuchung Insurgent Identities detailliert herausarbeitet, dass tatsächlich die Identität als Urban Community in Opposition zum Staat und zur Kirche für die Ausbildung der Commune entscheidend war und weniger beispielsweise die Forderung nach einem Recht auf Arbeit, das bei früheren Aufständen im Vordergrund stand. Auf den Barrikaden standen und in den Klubs diskutierten nicht nur Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern die Bewohner*innen der angrenzenden Nachbarschaften, egal ob Arbeiterin, Künstler oder Kleinunternehmer, wobei unbestritten die Arbeiterklasse die große Mehrheit der Kommunard*innen ausmachte.
Nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Lyon oder Marseille gab es kurze Phasen einer Commune. Diese konnten sich jedoch nur in geringem Ausmaß auf kollektive Massenaktionen stützen und Regierungssoldaten hatten – im Gegensatz zu Paris – wenig Mühe, die Aufständischen zur Aufgabe zu bewegen oder zurückzudrängen (Gould 1995, S. 192). Neben der Begeisterung in mehreren Städten für die Commune gab es jedoch genauso den fanatischen Klassenhass, der sich in einer unbeschreiblichen Feindseligkeit äußerte und schlussendlich dazu führte, dass durch die Versailler Armee in einem als blutige Woche in die Geschichte eingegangenem Gemetzel, je nach Schätzung 20.000 bis 30.000 Kommunard*innen getötet wurden. Dass damit auch erreicht werden sollte, die Erinnerung an die Commune auszuradieren, war vielen Kommunard*innen bewusst, weswegen unmittelbar nach ihrem Ende ein eifriges Niederschreiben von Erinnerungen und Analysen begann. Karl Marx veröffentlichte bereits wenige Tage nach Ende der Commune seinen Text Der Bürgerkrieg in Frankreich, in dem er noch begeistert schrieb, die Commune sei »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (Marx & Engels 1973, S. 342).
Ganz im Gegensatz zur Französischen Revolution spielt die Commune in Frankreich bis heute eine untergeordnete Rolle. Abgesehen vom 100-Jahr-Jubiläum, das 1971 in zeitlicher Nähe zu 1968 stattfand und das Wissen über die Commune auch aufgrund etlicher Publikationen verbreitete, ist sie heute fast wieder vergessen und weder Teil des Schulunterrichts noch des Alltagswissens.
Ein hohes Interesse und die entsprechende Aufmerksamkeit gab es von Anfang an vor allem in der historischen Arbeiterbewegung. Auch in Wien wurden die Jahrestage regelmäßig gefeiert. Karl Renner schwang sich in einem Artikel, der am Neujahrstag 1922 auf Seite 1 der Arbeiterzeitung erschienen ist, auf, auch das Rote Wien mit nachdrücklichem Verweis auf die Pariser Commune als Kommune zu bezeichnen: »Ein großes Erbe, eine gewaltige Neuschöpfung, ein kostbares Kleinod der Zukunft ist die Republik und Kommune Wien, Arbeiter von Wien, sie ist in eure Hand gegeben – bewahret, behütet sie denen die nach euch kommen, als teuerstes Vermächtnis!« (Arbeiter-Zeitung, 1.1.1922, S. 2). Auch wenn man das Rote Wien keineswegs direkt mit der Commune vergleichen kann, gibt es doch Parallelen, was die äußeren Umstände anbelangt. Eine Kriegsniederlage, das Ende eines politischen absolutistischen Systems, der fanatische Hass von Seiten des Bürgertums und schlussendlich die militärische Niederschlagung.
Unser Schwerpunkt trägt den Titel Place Internationale und bezieht sich damit auf die Umbenennung des Place Vendôme nach dem Sturz der Vendôme-Säule (siehe Becker in diesem Heft, S. 47–48) während der Commune. Die Commune verstand sich von Anfang an als universell und grenzte sich vom Nationalismus ab. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Proklamation wurden alle Ausländer*innen aufgenommen. Die »Fahne der Commune ist die Weltrepublik« (zit. nach Ross 2021, S. 32) war in der Zeitung der Commune zu lesen. Ähnlich wie später im spanischen Bürgerkrieg beteiligten sich Internationalist*innen auf Seiten der Commune an ihrer Verteidigung. Die Kolonial- und Kriegspolitik Frankreichs wurde in den Klubs der Commune regelmäßig scharf kritisiert.
Nach der Niederschlagung der Commune mussten viele Kommunard*innen ins Exil gehen. Sie nahmen ihre Ideen dorthin mit, aber auch ihre Schriften verbreiteten sich und so gab und gibt es immer wieder urbane Kämpfe und Aufstände, die sich auf die Commune beziehen oder selbst Commune nennen – der lange Wellenschlag der Revolution. So rief die chinesische KP beispielsweise 1927 in Guangzhou eine Commune aus (Chak 2021), fünfzig Jahre später passierte das gleiche in Shanghai. Bei den Platzbewegungen 2011 waren immer wieder Plakate mit dem Slogan La Commune n’est pas morte zu sehen und auch heute stößt das Interesse am luxe communal (Luxus für alle) und der Selbstverwaltung wieder auf verstärktes Interesse, wie sich am Engagement für Commons zeigt.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Bruhat, Jean; Dautry, Jean & Tersen, Emile (1971): Die Pariser Kommune von 1871. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Chak, Tings (2021): Guangzhou 1927: The Paris Commune of the East. In: The Funambulist 34, S. 20–23.
Gould, Roger V. (1995): Insurgent Identitites – Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune. Chicago: The University of Chicago Press.
Hofmann, Julia & Lichtenberger, Hanna (2011): Von der Commune in die Stadtteile. In: Perspektiven – Magazin für linke Theorie und Praxis, Heft 14. Verfügbar unter:
http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/Von der Commune in die Stadtteile.pdf (Stand 21.07.2021).
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1973) [1871]: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: Marx Engels Werke, Band 17, S. 342. Berlin: (Karl) Dietz Verlag.
Ross, Kristin (2021): Luxus für alle – Die politische Gedankenwelt der Pariser Commune. Berlin: Matthes & Seitz.