Iris Meder


Hat er wirklich einen so schlechten Ruf? Oder steht er nicht vielmehr vor allem im Ruf, einen schlechten Ruf zu haben? Das Wien Museum hat sich mit einem großen Kuratoren- und Kuratorinnenteam jedenfalls aufgemacht, das Phänomen Karlsplatz von allen Seiten akribisch zu untersuchen. Horizontal, vertikal und diagonal wurde das Sujet durchschnitten und thematisiert. Herausgekommen ist nicht eine Ausstellung, sondern ein Konglomerat von vielen. Die Vielfalt der Kuratierung hat dem Projekt definitiv gut getan; vom einstigen Naturraum Wien-Auen über die Themen Mühlen und Spitäler am Karlsplatz, über die Schwarzmarktszene der Nachkriegszeit bis zur Verkehrshölle und Großbaustelle der Siebziger (mit Alain Delon und Burt Lancaster auf Verfolgungsjagd durch die U2-Baustelle im Thriller Scorpio aus dem Jahr 1973) und dem vielschichtigen Karlsplatz-Komplex der Gegenwart sind alle nur erdenklichen Aspekte des Themas kompetent aufgearbeitet. Rote Fäden bilden unter anderem Computeranimationen, die das Gebiet in Zeitstationen entlang der letzten zwei Jahrtausende zeigen.

Ein wenig verwirrend ist die nicht recht chronologische Aufteilung der Ausstellung, die die Zeit der großen Planungen der Ringstraßenära in das erste Obergeschoß verlegt, während der angebliche „Angstraum“ der Gegenwart (verhindert nicht die massive Präsenz der Polizei ohnehin jegliches Angstgefühl beim Durchqueren der notorisch verräucherten und Bierpfützen-gesprenkelten Karlsplatz-Passage?) dann wieder im großen Wechselausstellungsraum im Erdgeschoß angesiedelt ist. Die Ausstellungsarchitektur von RAHM Architekten behält die Opulenz der Themen dennoch gut im Griff und schafft in der Überfülle an Exponaten und Hintergrundinfos immer wieder atmosphärische „Wege“ durch das Gestrüpp Karlsplatz, etwa durch eine Auenlandschaft mit vielfältiger Flora und Fauna. Vorhangartige Lochblech-Paravents lassen dabei immer Blicke auf den gesamten Ausstellungsraum zu, während sie gleichzeitig eine sinnvolle Wegeführung vorgeben.

Als Ergänzung und Kompendium sei der lexikalisch dicke und dichte Katalog empfohlen, der jede Menge historisches und aktuelles Bildmaterial und kompetente Essays zu allen erdenklichen Themen des „Monte Carlo“ liefert. Vielleicht liegt es an der nachgerade erschlagenden Fülle an Material – aber man wüsste nicht zu sagen, welcher Aspekt unberücksichtigt geblieben wäre. So sollen Ausstellungen in Stadtmuseen sein; nicht nur einen momentanen Eindruck bieten, sondern kompetent aufgearbeitete Grundlagen für weitere Forschungen. Und wer noch nicht genug hat, und wem das alles zu dicht ist, oder zu theoretisch, oder zu historisch, der kann vor dem Museum mit einem Kran in die Höhe fahren und sich das Ganze aus luftiger Distanz von oben besehen.

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Ausstellung
Am Puls der Stadt 2000 Jahre Karlsplatz
Wien Museum,
29.5. bis 26.10.2008


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