Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Die Auseinandersetzung mit der räumlichen Dimension hat in den letzten Jahren eine ebenso erfreuliche wie bemerkenswerte Aufwertung erfahren. Insbesondere in geistes- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen spiegelt sich Frederic Jamesons griffige Aufforderung „Always spatialise!“ besonders deutlich; die Literaturwissenschaft generell, die nationalen Philologien und vor allem die Vergleichende Literaturwissenschaft sind dahingehend keine Ausnahme. Verschiedenste Möglichkeiten der Annäherung sind dabei gegeben, und sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Denken wir etwa an Franco Morettis Atlas of the European Novel 1800–1900 (1999), der darin eine konkrete Verortung literarischer Schauplätze unternimmt, die auch mit seiner jüngsten, bemerkenswerten Untersuchung Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for a Literary History (2007) korrespondiert. Alternativ dazu, doch nicht weniger reizvoll ist etwa Anna Ferraris gleichermaßen lesenswertes Unterfangen, die mit ihrem Dizionari dei luoghi letterari immaginari (2007) den (neu) entworfenen bzw. imaginierten Handlungsorten nachspürt.

Der Bezug zur Literaturgeschichte (und wie diese Literaturgeschichte und die Geschichte der Weltliteratur gedacht werden kann) verbindet die divergierenden Zugänge, so auch den vorliegenden, umfangreichen Band Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, der als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung (2006–2007) im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne erschienen ist. Im Zentrum des Buches, das gleichermaßen durch Texte und Abbildungen überzeugt, stehen die fiktiven Räume der Literatur: Räume, Häuser, ganze Städte und Welten werden hier eindrucksvoll vorgestellt. Das erste Drittel des Bandes besteht aus einführenden Textbeiträgen, die durch ihre breite Streuung nicht nur auf den Facettenreichtum der produktiven Wechselbeziehung zwischen den riesigen Gebieten Literatur und Architektur verweist, sondern auch einen literaturgeschichtlichen Aufriss quer durch den western canon der Klassiker bietet, die sich dann im weiteren Inhalt wieder finden: In neun darauf folgenden Unterabschnitten werden diese strukturellen Leitlinien des Klassikers bzw. des Klassischen beibehalten, die spezifische Perspektive erlaubt aber eben nicht nur die sinnvolle Integration seltener Materialien, sondern eben auch Neuzugänge zum (vermeintlich) Vertrauten.

Der Bogen spannt sich dabei von mythischen und biblischen Orten, über Entwürfe von Tatorten und Handlungsräumen, von fiktiven Städten und Gesellschaftsentwürfen hin bis zu Planskizzen literarischer Werke. Die Liste der behandelten Autorinnen und Autoren reicht von Platon, Francesco Colonna und Gustave Flaubert über Jonathan Swift, William Beckford und Franz Kafka hin bis zu Umberto Eco, Italo Calvino oder Thomas Bernhard. Neben diesen und weiteren Klassikern werden auch eigenständige, thematisch verwandte Medienformen wie Comics oder Zeichnungen von Autorinnen und Autoren berücksichtigt; der abschließende Abschnitt Dichtung wird ArchitekturArchitektur wird Dichtung reflektiert nicht nur sinnvoll das Überführen literarischer Entwürfe in reale Umsetzungen, sondern vermittelt auch anschaulich die Verhältnisse zwischen den Bauplänen der Literatur und der zutiefst literarischen Struktur gebauter Wirklichkeit. Damit ist die Frage nach der Anwendbarkeit des Verhältnisses – der im besten Sinne praktischen Seite der Gedanken – integriert und auch anhand weiterer Beispiele umfassend beantwortet, der Ort der befruchtenden Beziehung von Literatur und Architektur zumindest umrissen. Um bei diesem Gedanken zu bleiben, kann also behauptet werden, dass auch dieses Buch – nicht zuletzt mit dem darin eingeschriebenen Versuch der Kartierung einer medienkomparatistischen und künsteübergreifenden Relation – sein Gebiet hat. Seinen besten Ort könnte und sollte es – ist es doch gleichermaßen als Lesebuch wie als Nachschlagewerk geeignet – im Bücherregal der interessierten Leserschaft finden.


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