» Texte / Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume

Andrea Benze

Andrea Benze ist Mitgründerin von OFFSEA (Office for Socially Engaged Architecture) und lehrt an der TU Berlin.

Carola Ebert

Carola Ebert war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und zuvor acht Jahre selbstständige Architektin für (nicht-) städtische Wohnhäuser. Sie lehrt an der BTU Cottbus sowie der TU Berlin und ist im Vorstand des Netzwerks Architekturwissenschaft.

Julia Gill

Julia Gill hat Architektur in Venedig und Braunschweig studiert. Sie ist selbstständige Architektin, Architekturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Braunschweig.

Saskia Hebert

Saskia Hebert ist Architektin und betreibt mit ihrem Partner Matthias Lohmann das Büro subsolar (Architektur und Stadtforschung) in Berlin.


Foto: Saskia Hebert
Foto: Saskia Hebert

Was ist das Leben?
Ich weiß es nicht.
Wo wohnt es?
Diese Frage beantworten die Lebewesen,
indem sie den Ort erfinden.

Michel Serres

Das Leben in dispersen Strukturen peripherer Zwischenräume ist für viele Menschen Normalität und in sich ein vielschichtiges Phänomen. Im wissenschaftlichen Diskurs über die Stadt sind solche randständigen Gebiete und Lebenswelten gerade in baulich-räumlicher Hinsicht noch wenig erforscht. Als Architektinnen sehen wir Handlungsbedarf, diese realen, ideellen und individuell wie kollektiv gelebten Konstruktionen (nicht-)städtischer Lebenswelten differenziert zu analysieren.
Die vier folgenden Beiträge zeichnen jeweils ein anderes Bild von Normalität außerhalb städtischer Zentren: Sie untersuchen die eigentümliche Alltäglichkeit von Vereinsorten in der post-industriellen Stadtregion Bitterfeld-Wolfen, analysieren individuelle Sinnzuschreibungen und mehrfache Ortsverschiebungen in einer Großwohnsiedlung der ehemaligen DDR, sie hinterfragen das kosmopolitisch-moderne Ideal westdeutscher ArchitektInnenbungalows der Wirtschaftswunderzeit und die standardisiert wirkende Individualitätssuggestion des zeitgenössischen Fertighausangebots. Die Qualitäten dieser Lebenswelten lassen sich nur mittels eines erweiterten Architekturverständnisses erforschen, das auch Alltagsarchitektur betrachtet und dabei die konkret baulich-räumlichen Aspekte im Zusammenhang mit Themen wie Aneignung und persönlichen oder gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen diskutiert. In der Überlagerung der vier Analysen entsteht in diesem Heft ein vielschichtiges Mosaik normaler und zugleich ungewohnter (nicht-)städtischer Phänomene.
Die Beiträge nähern sich dieser Art des (nicht-)städtischen Lebens aus mehreren Blickwinkeln. Allen ist gemein, dass sie jeweils einen spezifischen Teilbereich dieses Themenfeldes ebenso baulich-räumlich wie im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz detailliert betrachten. Zwei Autorinnen wählen dabei einen städtebaulich-räumlichen Ansatz (Andrea Benze, Saskia Hebert), zwei fokussieren auf einen architektonischen Typus (Carola Ebert, Julia Gill) – wobei jeweils ein Beitrag am konkreten Beispiel des jeweiligen Forschungsgegenstands argumentiert und einer einen eher theoretischen Schwerpunkt setzt.
Andrea Benze nimmt die Stadtregion Bitterfeld-Wolfen zum Ausgangspunkt und forscht dort, wo auf den ersten Blick nichts zu sehen ist. Auf der Suche nach alltäglichen sozialen Orten stößt sie auf die große Bedeutung soziokultureller Vereine in klein- und mittelstädtisch geprägten Transformationsregionen. Die detaillierte Analyse und experimentelle Kartographierung der Vereinsorte führt zu neuen Erkenntnissen über die Lebensweise, Lebensqualität und auch die gestalterische Ausprägung von alltäglichen sozialen Orten in der Stadtregion und macht Entwicklungspotenziale auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen sichtbar.
Saskia Hebert thematisiert in ihrem Beitrag die Diskrepanz zwischen gebauter Welt und gelebtem Raum. Am Beispiel der ehemals sozialistischen Großwohnsiedlung Halle-Neustadt zeigt sie, dass zwischen der baulich-räumlichen Erscheinung von Orten und dem biographisch bedingten Wissen, das mit ihnen verknüpft ist, erhebliche Differenzen bestehen können. Ausgehend von einer phänomenologisch fundierten Analyse des Wohnens wird das Wohnen selbst auf diese Weise als individuelles Engagement für den eigenen Ort erkennbar. Die alltäglichen Praktiken und Gewohnheiten, die uns in einer konkreten Wirklichkeit verankern und uns diese zugleich als Möglichkeitsraum erschließen, werden so zum wertvollen Potenzial für die Praxis der Stadtentwicklung.
Carola Ebert analysiert den westdeutschen Bungalow der 1950er und 1960er Jahre anhand von Wohnhäusern, die ArchitektInnen für sich selbst bauten. Unterschiedliche Beispiele erläutern drei wichtige Bungalowtypologien und zeigen, wie das konkrete Objekt sich – jeweils in einer individuellen architektonischen Lösung – räumlich mit dem privaten Garten verschränkt und gegenüber der Straße und den NachbarInnen weitgehend unsichtbar wird. Der westdeutsche Bungalow folgt dabei einem amerikanisch-kalifornischen Leitbild, in dem sich moderne Architektur mit einem als fortschrittlich empfundenen Lebensstil verknüpft. Während der Typus als solcher sich ideell der modernen kosmopolitisch ausgerichteten westlichen Welt zuordnet, steht letztlich jeder Bungalow in der privatisierten Landschaft seines Gartens für sich.
Julia Gill untersucht die kommerzielle Eigenheimproduktion in Deutschland. Der industrialisierte Fertighausbau verheißt den KäuferInnen heute nie da gewesene Individualität. Doch streben die Fertighäusler wirklich nach Individualisierung? Der Beitrag untersucht, welche Bilder und Vorbilder in Gestaltung und Vermarktung der Gebäude wirksam sind, um der Vielzahl abstrakter Wunschvorstellungen zu genügen. Es zeigt sich, dass sowohl diese Bilder – medial bis zur Standardisierung reproduziert – als auch die Wunschvorstellungen der KundInnen eher standardisiert als individuell sind. Die unter Vermarktungsdiktat stehende Lebenswelt der suburbanen Wohngebiete belegt vor allem den unauflöslichen Widerspruch einer standardisierten Individualität.
Die vier Beiträge beschreiben so unterschiedliche Praktiken wie die Konstruktion von Wohnarchitektur anhand idealisierter Bildwelten sowie die Aneignung und Transformation des direkten Wohnumfelds im historischen Wandel oder von Leerstellen der Stadtregion. Die Praktiken dieser ex-zentrischen Normalität mögen auf den ersten Blick durchaus exzentrisch anmuten, erweisen sich zugleich jedoch in der Analyse als erfolgreiche Strategien der BewohnerInnen und BenutzerInnen, einen gelebten, individuellen Kontext – den eigenen Ort als persönliches Zentrum – in Relation zu einer gesellschaftlichen und/oder stadträumlichen Mitte zu etablieren. In allen vier Untersuchungen zeigt sich eine antagonistische Doppellogik, die Motive des Verbergens und der Abgrenzung mit einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und gemeinschaftlich geteilten Bild- und Lebenswelten vereint.
Zwei weitere Beiträge thematisieren die Untersuchungen (nicht-)städtischer Orte und Bautypologien im Kontext übergeordneter Diskurse: Iris Reuther betrachtet die Forschungsergebnisse zur ex-zentrischen Normalität mit Hinblick auf ihre Implikationen für die städtebauliche und architektonische Praxis. Sie argumentiert, dass der praktische Umgang mit dem (Nicht-)Städtischen veränderte konzeptionelle Haltungen sowie neue Erkenntnisse und Standards jenseits der traditionellen PlanerInnenperspektive erfordert. Susanne Hauser diskutiert die Relevanz der Untersuchungsgegenstände und -methoden im erweiterten Tätigkeitsfeld der Architektur, das im engen Austausch mit anderen gestaltenden sowie den kulturwissenschaftlichen Disziplinen einer qualifizierten eigenen Forschung und Theoriebildung bedarf. Diese impliziert und ermöglicht den analytischen Blick auf randständige Gebiete sowie auf die Eigenarten und Qualitäten von Räumen unspektakulärer Normalität.


Heft kaufen
Literaturliste

Serres, Michel (2005): Atlas. Berlin: Merve