Expertenwissen vs. »Expertenwissen« - Was kann/soll/muss Stadtplanung heute leisten?
Besprechung von »The Contested Metropolis. Six Cities at the Beginning of the 21st Century« herausgegeben von INURAINURA (Hg.)
The Contested Metropolis. Six Cities at the Beginning of the 21st Century
Basel/ Boston/ Berlin: Birkhäuser, 2003
301 S. (Großformat), 49,40
Wem gehört die Stadt? Wer ist zu welcher Nutzung berechtigt, verfügt, kontrolliert, herrscht? Wie weit geht die demokratische Struktur einer Stadt, das Miteinander, Nebeneinander, Gegeneinander der unterschiedlichen Interessen und Gruppen? Was verändert sich im Prozess der Globalisierung an der Stadt? Was bleibt von ihr übrig, wenn unter dem Primat einer globalisierten Ökonomie die Zerstückelung und Polarisierung ungehindert Platz greift? Kann »Stadtluft« weiterhin frei machen? Wie muss Planung in Zukunft funktionieren, wenn sie menschengerecht, nachhaltig und ökologisch wirken soll. Insbesondere Planung für die Stadt, die jetzt schon die Hälfte der Weltbevölkerung, in naher Zukunft zwei Drittel davon beheimaten wird?
Raffaele Paloscia hat eine Einleitung zu The Contested Metropolis, dem zweiten Buch von INURA, geschrieben. Leonie Sandercock und Alberto Magnaghi stecken in ihren Statements zu Beginn »erreichbare Utopien« ab. Allen Dreien ist die wissenschaftliche Arbeit als Universitätslehrer (für Planung), eine ausgedehnte Literaturliste und ein starkes Engagement in demokratischen Bewegungen ihrer Heimatorte Florenz bzw. Britisch-Kolumbien gemeinsam.
Leonie Sandercock gibt praktische Beispiele von Städten, die sich selber aus dem Sumpf ziehen: Angesichts der vielen Planungsdesaster des 20. Jahrhunderts muss die Methodik von Planung in diesem 21. Jahrhundert eine andere werden. Weg von bürokratischen Vorgängen von oben herab, hin zu einer Planung als sozialem Projekt, das uns hilft, zu mehr sozialer, kultureller und ökologischer Gerechtigkeit, zu einem reicheren Leben zu gelangen. Was jetzt nach Schlagworten klingt, füllt sie mit Inhalten, wenn sie von einer »Planung der Gefühle« erzählt: Stadt(planung) hätte ihrer Meinung nach die Aufgabe, Hoffnung zu produzieren, Ängste zu verhandeln und Erinnerungen einer Aufarbeitung in einem dialektischen Prozess, in dem vieles über Geschichte(n) inspiriert wird, zugänglich zu machen. Was die Stadt erzählt, den verschiedenen Nutzergruppen, den einzelnen BewohnerInnen, kann zu Ausgangspunkten von (geplanten) Entwicklungsprozessen werden, wie Beispiele aus der ganzen Welt zeigen: etwa der »Statuenpark« bei Budapest, wo man die Leninbilder genau so wenig aus dem gesellschaftlichen wie dem individuellen Gedächtnis auslöschen kann oder das Sklaverei-Museum in Liverpool. Ängste und Sicherheitsbedürfnisse sind in allen Städten vorhanden, tendieren zu einer Einschränkung offener, demokratischer Zugänge, wenn sie nicht besprechbar gemacht werden können.
Alberto Magnaghi präsentiert sich als Vertreter einer italienischen Schule einer ganzheitlichen Annäherung an eine selbsterhaltungsfähige lokale Entwicklung, in der Stadt und umgebendes Hinterland eins werden. Eine Idee, die in Österreich als Berg-Stadt-Genossenschaft BERSTA schon vor etlichen Jahren zu Grabe getragen wurde. Vielleicht, weil ihr die politische Ausrichtung, als Vision, gefehlt hat? Eine politische Ausrichtung, die über den Konsum gesund und nachhaltig produzierter Nahrungsmittel durch Angehörige finanziell besser gestellter Mittelschichten hinausgeht, sowohl was die Ziele als auch die Zielgruppen betrifft. Magnaghi listet auf, was alles umzudenken wäre, wenn die Handlungsebene sich von der Stadt auf regionale Zusammenschlüsse verlagert:
- Urbane Praktiken und Strategien müssten einem regionalen Kontext weichen, in dem für ökologisches Wirtschaften Platz ist. Die AkteurInnen einer solchen Neuorientierung im politischen Konzept müssten die Konsumentenperspektive der StadtbewohnerInnen um die Produzentenperspektive der LandbewohnerInnen erweitern. Die Trennung ProduzentInnen-KonsumentInnen der fordistischen Industriegesellschaft ginge in eine gemeinsame Verantwortung für die lokale Produktion und Lebensqualität über.
- In Raum und Zeit ein- und abgeschlossene lokale Gesellschaften wandelten sich zu multiethnischen und veränderbaren, deren Identität auf Zeit in der Planung der gemeinsamen Zukunft entsteht.
- Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit verlagerte sich in den Kampf um die Auf-Rechterhaltung lokaler Kulturen: gegen soziale Polarisierung und Fragmentierung, für eine Betonung der Vielschichtigkeit von Lebensstilen und Kulturen.
Wie »macht« man ein lokales, auf den Ort bezogenes Projekt? Wie »macht« man eine »lokale Gesellschaft«? Es geht um die politische Manifestation eines Bedürfnisses, einer Notwendigkeit, einer Idee, um auf die Herausforderungen der Globalisierung zu antworten. Sie muss immer über die gegenwärtig nach zwei nicht nachhaltigen Richtungen verlaufenden Reaktionen hinausgehen: Einerseits den isolationistischen Widerstand, der Identität durch Ein- und Abschließung lokaler Gruppen - mit der Weigerung Außenbeziehungen einzugehen, und zur Erneuerung zu nutzen - erhalten will. Andererseits einen Konkurrenzkampf zwischen den lokalen Systemen in der Ausbeutung und Zerstörung ihrer Umwelt, ihres territorialen und menschlichen Vermächtnisses im sklavischen Befolgen exogener Spielregeln für das »Rattenrennen« auf dem Weltmarkt.
Um hier zwischen Scylla und Charybdis durchzusteuern bedarf es eines ganzen Netzes von Einzelstrukturen und -maßnahmen. Es braucht Knotenpunkte in einem dicht geflochtenen Netz an Meinungen und Stimmen, um eine Globalisierung von unten nach oben in Gang zu setzen.
Die Porträts der sechs Städte – von jeweils mehreren AutorInnen geschrieben – sollen hier nicht rezensiert werden. Dennoch einige Schlaglichter = Überschriften (zur Wieder-Erkennung) und ein Überblick über persönliche Highlights
Berlin
From MetropoLUST to MetropoLOST – Re-Unified, but not in One Piece – Schlussverkauf am Potsdamer Platz - From SOLIDARICity to SegegratioTOWN – Subkultur: Pionier für die Musikindustrie oder Gegenkultur? Produktion von Wirklichkeit und Fantasie: die Info-Box
Brüssel
Von der multikulturellen und fragmentierten Stadt zur »mediterranen« Hauptstadt Europas? –
Nachbarschafts-Verträge: Wege zu einer partizipatorischen Planung? – Ganz unten: Kulturen des Zusammenlebens in Brüssel – The Universal Embassy – Zinneke–eine künstlerische Bürgerparade? - Die »Botschaft von überall«
Die aufständische Stadt: Florenz
Die verachteten Plätze: Geschichte und Geografie eines anderen Florenz – Eine Stadt der verschlossenen Tore – Der urbane Griff über die Grenzen übergreifender Räume – Urbane Geografien, übelfarbige Netzwerke, neue soziale Praxisfelder – Rights and Fights. Urban Movements in Florence – Die Dummheit von PlanerInnen und die Intelligenz von Kindern – Historische Aufstände
London – eine unangefochtene Metropole?
Aktion für Gleichheit – Neue Perspektiven der Basisarbeit – Die Erschaffung von Wohlstand und die Erschaffung von Armut: das global-lokale Wechselspiel in Londons Ökonomie – Kommunale Partizipation und Stadterneuerung in London - Nachbarschaft-Zustände
Toronto
Die Stellvertreter-Stadt – Vorstädtische Träume – Die Träume von der globalen Stadt und die Ökologie der Geschlossenheit – Die Armut von Planung: Obdachlose gegen StadtplanerInnen – Eine »kreolische« Stadt: Kultur, Klasse, Kapital in Toronto – Gegen die Wettbewerbsstadt?
Zürich from Paranoia City to Ego City
Neue Planungsparadigmen der Stadtverwaltung – 15 Jahre auf der Suche nach einem postindustriellen Zürich – Der neue Metropolen-Schwerpunkt – Zwischen Subkultur und Weltwirtschaft: kreative und innovative Kleinstunternehmen – Kraftwerk 1 mehr als Schöner Wohnen – Eurogate-Hauptbahnhof: Aufstieg und Fall der Eisenbahn
INURA (Hg.)
The Contested Metropolis. Six Cities at the Beginning of the 21st Century
Basel/ Boston/ Berlin: Birkhäuser, 2003
301 S. (Großformat), 49,40
Heinrich Hoffer