Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


»Der Anlass dieser Ausstellung ist ein Skandal«, meint Dietmar Steiner, der Direktor des Architekturzentrums Wien, mit gewohnter Angriffslust und verweist damit auf das seit Jahrzehnten einzementierte österreichische Bildungswesen, das sich wider alle ExpertInnen-Vernunft beharrlich der überfälligen Anpassung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts widersetzt. Das betrifft die pädagogischen Konzepte ebenso wie Fragen eines zeitgemäßen Schulbaus. Bildung made in Austria ist ideologische Kampfzone, altbewährter Battleground zwischen wankelmütiger Sozialdemokratie und konservativer Bürgerpartei, die im rückwärts gewandten Beharren auf elitär angestammte Bildungshoheit zu übersehen scheint, dass sie dabei nicht nur die Zukunft des Landes verspielt, sondern auch längst den Anschluss an den gesellschaftlichen Meinungswandel in Sachen Schule verpasst hat. Denn für alle, die jenseits von Parteizentralen und Amtsstuben unmittelbar mit Bildung in Berührung kommen, ist es unübersehbar: Dieser Kessel steht unter Hochdruck, und die Unzufriedenheit von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern dampft durch jede Ritze der 9 × 7 m-Klassenräume im althergebrachten Kasernenformat.
Diesem bildungspolitischen Stillstand will die Ausstellung Fliegende Klassenzimmer frei nach Erich Kästner Bewegung verleihen: Flügel für das Denken über Schule und Raum jenseits von Normen und Fakten, Treibstoff für die Phantasie und Anregung durch unmittelbare Raumerfahrung. Die »interaktive Ausstellung über Orte zum Wachsen für alle von 6 bis 99 Jahren« richtet sich an PädagogInnen, PolitikerInnen und ArchitektInnen sowie an Kinder, Jugendliche und deren Eltern als Hauptbeteiligte am Themenkomplex Schule.

Vergangenheit trifft Zukunft

Ursprünglich im Auftrag des steirischen Kunsthauses Mürz von Christian Kühn, Antje Lehn und Renate Stuefer konzipiert, reiste die Schau aufgrund großer Nachfrage bereits nach Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg, um schlussendlich im Architekturzentrum Wien ein letztes Mal ihre Ideenwelt aufzuspannen. Obwohl Fliegende Klassenzimmer ganz absichtlich keine »Best Practice« Ausstellung ist, wie Kuratorin Antje Lehn betont, widmet sich rund die Hälfte der Schaubereiche konkreter Schularchitektur: Die Schule im Grundriss illustriert auf fünf Tafeln die Geschichte des Schulbaus der letzten 200 Jahre, und der Bereich Sammlung zeigt als spezielle Ergänzung für die Wiener Schau acht österreichische Schulbauten der Jahre 1953 bis 1979 aus dem Archiv des Az W u. a. von Viktor Hufnagel, Anton Schweighofer, Ottokahr Uhl und der Architektengemeinschaft C4. Der Bereich Lernen im Raum und nicht im Zimmer rückt die dänische Hellerup-Schule in den Mittelpunkt, errichtet in den Jahren 1999 – 2002 von arkitema Architekten. Als bislang radikalstes Modell eines zukunftsweisenden Schulbaus wurde hier das Klassenzimmer komplett abgeschafft. Stattdessen fungiert das gesamte Gebäude als offener Lernraum, der sich in verschiedene Lebenswelten gliedert: Für kurze Konzentrations- und Abstimmungsphasen dienen sechseckige Pavillons – in der Ausstellung als Modell im Maßstab 1:1 zu testen –, daneben findet das Schulleben an offenen Arbeitsplätzen, in Sofanischen oder in den Kochbereichen statt. Die Zonen sind fließend, die räumliche Situation kann frei gewählt werden, und das Lernen erfolgt mit hoher Eigenverantwortung. Ob und wie die Hellerup-Schule funktioniert und welche Erfahrungen bisher damit gemacht wurden, präsentiert Hanna Bohn Vinkel, eine der EntwicklerInnen des Konzepts, am 13. April im Az W bei der Begleitveranstaltung 2020 Vision Schule.

Raum als Labor

Im Mittelpunkt von Fliegende Klassenzimmer steht aber das Experiment: Im Bereich »Baustelle Klassenzimmer« verwandelt sich der Grundriss einer genormten 7 x 9 m-Klasse in ein Versuchslabor: Schulinventar, umgedeutet und zweckentfremdet, bietet allerlei Gelegenheit zum Lümmeln, Fahren und Liegen. Lichtfolien und Overhead-Projektoren zaubern Farbstimmungen, und der riesige, rote Raumschlauch aus dehnbarem Stoff lädt ein, den eigenen Körper im Raum zu verorten und diesen damit gleichzeitig zu gestalten. Das »Forschungsfeld Raumerfahrungen« stellt Methoden zur Aneignung vor und wirft Wahrnehmungs-Fragen auf. Die Ausstellung begegnet den BesucherInnen aller Altersklassen auf Augenhöhe und fordert sie als ExpertInnen ihrer jeweiligen Bedürfnisse mit facettenreichen Angeboten auf, Meinungen und Ideen kund zu tun und vielfältig zu artikulieren – im Tonstudio ebenso wie mittels Sprechblasen und Zeichnungen, innerhalb des Ausstellungsbereichs wie auf der eigens dafür gestalteten Fassade des Az W. Im ExpertInnenstudio erzählen eine Schülerin, ein Lehrer und eine Architektin als DialogpartnerInnen des schulischen Handlungsfelds in Video-Interviews von ihren Erfahrungen und Ideen für die Baustelle Schule.
Empfehlenswert ist auch der kleine, zum Abschluss von Fliegende Klassenzimmer erschienene Band räume bilden. Wie Schule und Architektur kommunizieren, herausgegeben von Antje Lehn und Renate Stuefer. Neben der Dokumentation und vertiefenden Aufarbeitung der Ausstellung bietet er eine Reihe von interessanten Beispielen für das Denken über den »Lebensraum Schule«. Die durchgängig Fachtermini-freie Sprache macht das Buch zum positiven Impulsgeber für alle, die im Handlungsfeld Schule aktiv werden wollen. Denn die Zukunft der Schule, so scheint es, gehört in diesen Landen ohnedies den bottom-up-Strategien – top-down hat schon zu lange versagt.


Ausstellung
Fliegende Klassenzimmer
Wir machen Schule
Az W, Museumsquartier, Wien
3.-30. 5. 2011
Infos zum umfangreichen Begleitprogramm unter
http://www.azw.at


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