Tina Hedwig Kaiser


Zu Beginn eine lange Fahrt unter grünen Laubdächern. Die Protagonistin sieht verträumt aus dem Auto ins Außerhalb, das in verwischten Grüntönen an ihr vorüberzieht. Wir nehmen selbst für einige Zeit diesen subjektiven Blick ein. Die letzten Jahre fällt in den Programmreihen der Festivals, ob Berlinale oder Viennale, immer mehr auf, dass viele junge Filmemacher gerne eine solche Fahrtaufnahme als Einstieg in ihren Film wählen. Und es ist ja auch naheliegend: so scheint doch mit dem Übergang in der Fortbewegung – von den Eingangstiteln zur filmischen Erzählung – eine Situation geschaffen zu sein, die den Zuschauer abholen möchte. Er wird so am Wegesrand des Kinosessels zur Seite genommen und durch die bewegte Fahrt in den Film hinein transportiert. Eine charmantes Unterfangen. Und es wirkt: In TOMBOY von Céline Sciamma ist man anschließend hin und weg vom Spiel der Kinder. Sowohl die zehnjährige Laure als auch ihre jüngere Schwester scheinen in Ernsthaftigkeit und Humor die Erwachsenen nahezu an die Wand zu spielen. Laure wechselt für einen Sommer inmitten neuer Spielkameraden das Geschlecht und gibt sich für einen Jungen aus. Die fatalen Folgen, als sich ein Mädchen in sie verliebt, konnte sie so nicht abschätzen. Und das Schöne des Films ist es gerade auch, nicht zu erklären, was Laures Beweggründe sind. Keine Geschlechtsumwandlungsfragen, sondern zwar etwas hysterische Erwachsene, als das Ganze auffliegt, aber dafür recht entspannte Kinder. Und so sind auch die Räume des Stadtrands hier eingesetzt: Die Eltern befinden sich eben nur in der akuraten Neubauwohnsiedlung, die Kinder aber in der Wildnis jenseits der Häuser. Eine Steigerung erfährt diese Naturraumdarstellung dann in Thomas Heises SONNENSYSTEM. Der Titel verweist dabei auf das Sonnensystem und unsere Zeiten, die doch je nach Erdteil so sehr unterschiedlich aussehen können. Heise beobachtet hier eine indigene Gemeinschaft auf einem abgelegenen Hochplateau in Argentinien. Er zeigt Details des bäuerlichen Lebens, beobachtet die Naturstimmungen und die Landschaft. Viel wird dabei nicht geredet. Es wird geflochten, Leder bearbeitet, Essen zubereitet, geschlachtet. Dabei kommen nicht nur meditative Situationen zustande, denn Heise zeigt den Vorgang der Kastration oder des Schlachtens en detail. Weshalb, sei dahingestellt. Nötig wäre es nicht gewesen, man hätte auch anders das einfache, abgehärtete Leben zeigen können. Und auch zum Schluss misslingt dem ansonsten faszinierenden Film ein differenzierterer Abschluss: der Blick zieht vorüber an endlosen verdreckten urbanen Favelas. Das ist dann also eher die Holzhammermethode.
Weiter in eine U.S.-amerikanische Kleinstadt zu TERRI von Azazel Jacobs. Jacobs hatte mit MOMMA`S MAN vor ein paar Jahren einen Viennale-Hit gelandet, TERRI steht diesem allerdings etwas nach: Der Protagonist ist nicht ganz so überzeugend wie im Erstling, aber nichtsdestotrotz ein Nerd wie er im Buche steht. Außenseiter und free minded rettet er erst das ausgestoßene Highschoolgirl, nur um dann doch in der nächsten Wildnis, der seines Häuschens, mit einem jugendlichen Alkoholiker zu landen. TAKE SHELTER, als der andere zweite Langspielfilm, bei dem der erste bereits Festivalkultstatus erlangt hat, tut sich da leichter. Kein Wunder: Regisseur Jeff Nichols setzt ein weiteres Mal auf seinen Hauptdarsteller aus SHOTGUN STORIES. Michael Shannon, der Begnadete, trifft dabei wieder ins Schwarze, diesmal allerdings inmitten eines Tornadogebiets in Ohio. Alpträume und apokalyptische Visionen bringen sein Weltbild ins Straucheln. Und Straucheln allein ist es dann nicht mehr, was Lars von Trier sich für einen Landsitz ausgedacht hat. Die Erde wird hier verschluckt. Düster – und nun sogar auch noch einen europäischen Filmpreis wert. Der Anfang des Films dabei: blühende treibende Frühlingsgräser und Blätter, ähnlich Laures Autofahrt am Rande der Stadt. Nur, dass es bei von Trier nun mal immer dicker kommen muss. Die Fahrtaufnahme zu Beginn war ihm auch nicht möglich. Das Auto musste stecken bleiben.


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