Christian Peer

Christian Peer ist wissenschaftlicher Projektleiter an der TU Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung.


Das Jahr 2005 scheint ein Jahr der Enzyklopädien gewesen zu sein. Philip Blom ließ uns mit seiner Erzählung über Das vernünftige Ungeheuer hautnah an der Entstehung der großen Enzyklopädie in der Epoche der Aufklärung teilhaben. Wikipedia wiederum, die vielsprachige Wissensplattform im Internet, gab bekannt, zur weltweit größten freien Enzyklopädie avanciert zu sein, und der Brockhaus erschien zeitgerecht vor Weihnachten als digitale Gesamtausgabe.

Bescheiden macht sich in diesem Kontext der schmale Band Von Alltagswelt bis Zwischenraum, herausgegeben von den beiden Kulturwissenschaftlerinnen Gisela Welz und Ramona Lenz, bemerkbar. Das Potenzial dieser kleinen Enzyklopädie sollte hingegen nicht unterschätzt werden. Das Wörterbuch erklärt Begriffe und Konzepte, die von der Frankfurter Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus geprägt wurden. Mit ihrem wissenschaftlichen Werk verbunden war eine Neuorientierung der Volkskunde hin zu einer Wissenschaftsdisziplin, die sich seit den siebziger Jahren Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie nannte und sich damit einhergehend auch verstärkt der Alltagswelt im urbanen Raum zuwandte.

So wird das Ideal einer Stadt von Ina-Maria Greverus in durchaus normativer Absicht als Möglichkeitsort formuliert. Städte sind hierbei potenziell Orte, an denen man findet, wonach man gar nicht gezielt gesucht hat, in denen die wechselseitige Wahrnehmung der Menschen über soziale Grenzen und kulturelle Unterschiede hinweg die eigene Vorstellungswelt des Möglichen erweitert und um neue Optionen bereichert. Die so genannte Serentipität bereichert hierbei die kulturanthropologische Methodologie und wird als Prinzip verstanden, welches daran erinnern soll, dass das Feld nicht ein kontrollierbares Laboratorium darstellt und Forschende nicht die Richtung der Feldarbeit von Beginn an vorwegnehmen sollten. Mehr als das sollte das Unerwartete nicht bloß erwartet werden, nein, es sollte aufgespürt, ergriffen, erfasst werden. Ina-Maria Greverus schlägt vor, Kultur als Collage zu begreifen. So erlangt die Collage auch den Status des kulturanthropologischen Erkenntnisgegenstands „Stadt“. Die Collagen sind es, die hier neue Kultur entstehen lassen und neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnen.

Die vorliegende kleine Enzyklopädie ist eine als Einstieg konzipierte Zusammenstellung von Beiträgen gegenwärtiger KulturwissenschaftlerInnen, die Einblicke in Theorien und Ansätze gibt, die in der heutigen internationalen Kulturanthropologie diskutiert werden. Die Kulturwissenschaft als Betätigungsfeld für GrenzgängerInnen hält mit ihrem reflexiven und wandlungsfähigen Zugang auch für die Stadtforschung wesentliche und immer wieder neue Fragestellungen bereit. Vielleicht zeigt das Beispiel der Collage ganz gut, wie unterschiedlich Begriffe von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen besetzt und verwendet werden. In der Auffassung über die bauliche Form der Stadt fand etwa die Collage City in den siebziger Jahren Eingang in den formalistischen Diskurs des damaligen Städtebaus, welcher sich heute als Diskurs über Urban Form deutlich davon unterscheidet, sich – gekürzt formuliert – von einer Objektfixierung distanziert und sich verstärkt auch sozialer und politischer Kritik öffnen will. Inwiefern eine „kulturanthropologische Collage“ bereits in ihren frühen Ansätzen Potenziale zur Kritik bereitstellte und wie sie sich weiter entwickelt hat, welchen Stellenwert hierbei die „Stadt“ einnimmt, für diese Fragen hält die kleine kulturanthropologische Enzyklopädie – wenn sie auch nicht alle zu beantworten vermag – zumindest einen Einstieg bereit. Die kleine Enzyklopädie leistet nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zur transdisziplinären Verständigung.


Heft kaufen