Gemischtes Durcheinanderleben – Meile mit Eile
Besprechung von »Balkanmeile. 24 Stunden Ottakringer Straße« von Antonia Dika, Barbara Jeitler, Elke Krasny und Amila Sirbegovi2010 wurde das Stadtforschungs-Projekt Reisebüro Ottakringer Straße – Balkanmeile mit dem Preis der Jury für interkulturellen Dialog ausgezeichnet. Was nun in Buchform vorliegt, ist eine ausgezeichnete Dokumentation dieser zweijährigen Aktivitäten. es ist ein Buch zum Drehen und Wenden, ein Buch mit der notwendigen Street Credibility. Die Initiatorinnen Antonia Dika, Amila Sirbegovic und Barbara Jeitler – keine davon in Wien geboren – eröffneten im Mai 2009 temporär ein fiktives Reisebüro mit Bar und Souvenirladen in einem leerstehenden Geschäftslokal. Vom Info-Lokal aus wurde die transkulturelle Zone Reisebüro Ottakringer Straße – Balkanmeile einer exemplarischen Untersuchung unterzogen; der Untersuchungsabschnitt erstreckte sich vom Hernalser Gürtel bis zum Johann-Nepumuk-BergerPlatz.
In Ottakring, dem 16. Wiener Gemeindebezirk, in dem in den 1970er Jahren die erste Gebietsbetreuungseinrichtung (Quartiersmanagement) Wiens ihr Modell-Lokal errichtete, wird von den lokalen Gebietsbetreuungen mit Unterstützung der zuständigen Abteilung der Stadt Wien, an einer aktuellen Wahrnehmungskorrektur gearbeitet: Im Fokus steht die Ottakringer Straße – auch bekannt als Balkanmeile, die in den Wiener Krawallzeitungen in der Regel nur in Zusammenhang mit Messerstechereien und ähnlichem Erwähnung findet. Der Name Balkanmeile wurde von der ex-jugoslawischen Diaspora-Jugend, die seit Mitte der 1990er Jahre für die starke nächtliche Frequentierung sorgt, selbst geprägt.
1945 die Grenze zwischen dem französischen und dem US-amerikanischen Besatzungssektor, nun beliebter Ausgehort der Turbofolk-Community. ein Drittel der BewohnerInnen des Gebietes um die Ottakringer Straße sind ausländische StaatsbürgerInnen, zwei Drittel der UnternehmerInnen haben Migrationshintergrund, es gibt relativ wenig Leerstände im Erdgeschoßbereich (ca. zehn Prozent). Meistverkaufte Tageszeitung ist die 1992 gegründete serbischsprachige Zeitung Vesti. Soweit ein paar Zahlen zur Kurzcharakterisierung.
Der pseudo-touristische Blick der Veranstaltungen im Rahmen des Projektes Reisebüro Ottakringer Straße auf diese geschäftige Gegend sollte also dabei helfen, Vorurteile aufzuspüren und diese gemeinsam abzubauen. Die Beobachtungen, Beschreibungen und Interpretationen dieses Unterfangens liegen nun gesammelt vor: Fünf Diskussionsabende zu den Themen Stadtleben International, Fußball und Identität, Phänomen Turbofolk, Stadtraum Erdgeschoß und Vom Gastarbeiter zum ...? versuchen wichtige Facetten des vielkulturellen Zusammenlebens im Gespräch zu erkunden. Der Sprachwissenschaftler Martin Reisigl hinterfragt Stigmawörter und Anthroponyme, also Personenbezeichnungen, von nicht in Österreich geborenen Menschen.Vom Sozialanthropologen Daniele Kárász findet man exemplarische Kartierungen, die die Vielschichtigkeit des Beziehungsgeflechtes erdgeschoß-Lokal grafisch ansprechend aufbereiten. Der Wiener Journalist Uwe Mauch liefert acht Kurzporträts von Geschäftsleuten dieser Straße, zwei Fotoserien durchwirken dieses Kompendium und belichten künstlerisch das Tag und Nachtbild der Personenfluktuation. Abschließender allgemeiner InfoHappen: Das Wort Balkan kommt übrigens aus dem Türkischen und bedeutet soviel wie bewaldetes Gebirge. Zdravo Großstadtdschungel …
Michael-Franz Woels