Gesellschaft und Siedlungsstruktur in Suburbia
Besprechung von »Wohnen und Arbeiten in Suburbia. Szenarien und Potenziale« von Lisa NießeSuburbanisierungsprozesse − die Flucht aus der Kernstadt ins Grüne aus der Perspektive der Wohnraumsuchenden und die räumlich-funktionalen Entwicklungsmöglichkeiten aus Sicht der Unternehmenswelt − prägen seit dem 20. Jahrhundert die Siedlungsstruktur und die flächenmäßige Erweiterung der Stadt-Umland-Bereiche. Als einer der ersten im europäischen Raum stellte Sieverts mit dem Buch Zwischenstadt in den 1990er Jahren die Expansion der Städte über ihre administrativen Grenzen hinaus zur Diskussion und schuf die Grundlage für diesen neuen Forschungsgegenstand.
Der Titel des Buches Wohnen und Arbeiten in Suburbia lässt auf den ersten Blick einen globalen Diskurs zum Thema Suburbanisierung vermuten. Anhand einer eingehenden Recherche und Analyse zum Fallbeispiel Ahrensburg — eine Mittelstadt mit rund 31.000 EinwohnerInnen im Hamburger Umland — bietet diese Auseinandersetzung einen anschaulichen Einblick in die vorherrschenden Lebenswelten von BewohnerInnen, Beschäftigten und lokalen AkteurInnen in Suburbia.
Ausgehend von einem thematischen Abriss traditioneller und aktueller Leitbilder, gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und einer Kurzdarstellung des Siedlungsgeflechtes der Hamburger Stadt-region nähert sich die Autorin Schritt für Schritt sowohl thematisch als auch räumlich folgender Fragestellung an: Ergeben sich aus gesellschaftlichen Tendenzen grundlegende Veränderungen für die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten in suburbanen Städten und Gemeinden im Umland von Hamburg?
Die Auseinandersetzung mit der räumlichen Entwicklung von Suburbia zeigt, dass die Wohn- und auch Gewerbesuburbanisierung vor allem durch die von der Charta von Athen proklamierte Funktionstrennung geprägt ist und die seit den 1970er Jahren als Antwort darauf diskutierte Nutzungsmischung zwar in die Leitbilder und Strategiepläne als Zieldefinition Eingang gefunden hat, aber die notwendigen normativen Rahmenbedingungen dafür noch unzureichend geschaffen wurden, was sich bis heute in der Siedlungsentwicklung widerspiegelt.
Bevor auf die Wirklichkeiten der Mittelstadt Ahrensburg eingegangen wird, werden in einer voranstehenden theoretischen Analyse die Begrifflichkeiten aus der Suburbanisierungsforschung vorgestellt. Die globalen gesellschaftlichen Trends wie demografischer Wandel (alternde Gesellschaft), Diversifizierung der Lebensformen (weniger Familien, mehr Singles), wirtschaftlicher Strukturwandel (wissensbasierte Arbeitsorganisation) sowie die postfordistischen Alltagsstrukturen und Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (Flexibilisierung der Arbeit) bilden den Rahmen für die künftigen Herausforderungen auch der Klein- und Mittelstädte sowie Gemeinden in Suburbia.
Anhand der Siedlungsentwicklung ab Mitte des 18. Jahrhunderts skizziert die Autorin die zeitlich definierbaren Entwicklungsschübe in Ahrensburg einerseits anhand der räumlich-baulichen Erweiterungen und andererseits auf Basis der gesellschaftspolitischen Perspektiven und Motive der Zuziehenden. Waren es bis 1900 hauptsächlich Adelige, die sich den Auszug aus der Kernstadt leisten konnten und die Villenviertel in Ahrensburg aufbauten, so ermöglichte es die neue Bahnanbindung nach Hamburg ab den 1920er Jahren erstmals weiteren Gesellschaftsschichten, sich den Drang nach Draußen mit ein-fachen Wohn- und Kleingartensiedlungen zu verwirklichen.
Erstmals ab den 1960er Jahren ist im Suburbanisierungsprozess von Ahrensburg die Verflechtung von Wohnen und Arbeiten durch die Errichtung von Werkssiedlungen bzw. die Etablierung von funktional getrennten großflächigen Gewerbegebieten erkennbar: Die Beschäftigten folgten mit der Perspektive eines Arbeitsplatzes auf Lebenszeit ihren Firmen bzw. Fabriken ins Hamburger Umland. Klar dargestellt wird, dass bis 1980/1990 diese Entwicklungsphasen − sowohl was Wohnen als auch was Arbeiten betrifft − von externen Faktoren abhängig waren und erst danach auch Wachstumsschübe aus internen lokalen Impulsen heraus in Ahrensburg forciert wurden. Bei der Suche des Unternehmensstandortes beeinflussen in den letzten Jahren vielfach nicht mehr nur harte Standortfaktoren die Entscheidung, sondern vor allem die Wohnstandortwahl der UnternehmerInnen selbst, aber auch bei wissensbasierten Unternehmen der Wohnstandort des hochqualifizierten Personals.
Obwohl in einem eigenen Kapitel das Thema PendlerInnenmobilität im regionalen und lokalen Kontext beleuchtet wird, scheint dem wechselseitigen Bezug von Mobilisierungsgrad und suburbanen Siedlungsstrukturen kaum Platz eingeräumt. Fest steht, dass nicht nur innerhalb der Gemeinde eine räumlich-funktionale Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten besteht, sondern auch aufgrund der starken Pendelverflechtungen über die politisch-administrativen Grenzen hinweg diese Trennung abgebildet wird.
Im letzten Abschnitt entwirft die Autorin auf der Basis der Zunkunftsbilder ihrer InterviewpartnerInnen drei Zukunftsszenarien für die gesellschaftliche und siedlungsstrukturelle Entwicklung Ahrensburgs unter Berücksichtigung des Wandels der Erwerbsarbeit, aber auch die Veränderung der Wohnwünsche aufgrund differenzierter Lebensstile. Mit den Szenarien »Wachsende Konzentration«, »Emanzipierte Inselentwicklung« und »Evolutionäre Anreicherung« werden mehr oder weniger stark in die Siedlungsstrukturen eingreifende Perspektiven angeboten, welche die Verknüpfung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit und somit die teilweise Auflösung der trennenden räumlichen Strukturen zwischen diesen Daseinsfunktionen gemeinsam haben. In einem Baukastensystem werden anhand von Referenzen die Möglichkeiten von Verdichtung, Vermischung und Vernetzung aufgezeigt.
Im Allgemeinen zeigt die Auseinandersetzung mit diesem Thema, dass die siedlungsstrukturellen Entwicklungen mit den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von unkonventionellen Lebens- und Arbeitsentwürfen noch nicht aufeinander abgestimmt sind und in Suburbia nach wie vor das traditionelle Bild der Familie mit einem Haus im Grünen vorherrscht. Ob und mit welchem Szenario die Stadt Ahrensburg die aufgezeigten Herausforderungen aufgreifen wird, ist abhängig von den lokalen politischen, den regionalen und auch den finanziellen Handlungsspielräumen.
Evelyn Eder