Hungerkatastrophen sind soziale Krisen
Besprechung von »Die Geburt der dritten Welt« von Mike DavisMike Davis
Die Geburt der dritten Welt
Hunger und Massenvernichtung im
imperialistischen Zeitalter.
Berlin, Hamburg, Göttingen:
Assoziation A, 2004,
460 S., 30,40 Euro
Mike Davis ́ in den USA bereits 2001 erschienenes Werk Late Victorian Holocausts ist seit heuer endlich auch auf deutsch erhältlich. Wie nicht anders zu erwarten, ist es eine material- und detailreiche Abhandlung sondergleichen geworden. Man gewinnt den Eindruck, es gibt kein maßgebliches Werk zum Thema, das Davis nicht zumindest einmal zitiert, und keine Studie, die Davis nicht für Wert befindet, zu Rate gezogen zu werden. Das hat Vorteile und Nachteile. Einerseits hat man das Gefühl, wirklich umfassend informiert zu werden, andererseits fragt man sich zwischendurch dann doch, ob man das ganze Buch nicht ohne inhaltlichen Verlust um zwei Drittel hätte kürzen können.
Davis beginnt mit einer Darstellung der großen Hungerkatastrophen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die sich rund um die Erde zogen und in Südamerika, Afrika und Asien Abermillionen Menschenleben kosteten. Davis ́ Ziel ist, nachzuweisen, dass das Klimaphänomen ENSO, besser bekannt unter den Bezeichnungen El Niño und La Niña, nur zu einem Teil für die Hungerkatastrophen verantwortlich ist. Der britische Imperialismus gemeinsam mit der Durchsetzung der liberalen Marktwirtschaft, die die Eingliederung der ländlichen Agrarproduktion z. B. Indiens in den Weltmarkt zur Folge hatte, sind die Ursachen dafür, dass die Klimakatastrophen diese Auswirkungen haben konnten. Davis streicht hervor, dass die indische Subsistenzwirtschaft in vorkolonialen Zeiten sehr wohl in der Lage war, die Auswirkungen von Klimakatastrophen gering zu halten, schreibt aber auch, dass »die Intensität des ENSO-Zyklus im späten 19 Jahrhundert (...) vielleicht nur noch mit der von drei oder vier anderen Klimaereignissen im letzten Jahrtausend zu vergleichen ist.« Davis schildert eindrücklich, wie große Teile der Kolonialverwaltung in Indien die Hungerkatastrophen über lange Zeit ignorierten, weil ein staatliches Eingreifen in den Markt grundsätzlich als Übel galt. Dringend nötige Maßnahmen wie Hilfslieferungen, Aussetzen der Steuern, Regulierung der Preise etc. wurden aus ideologischen Gründen abgelehnt. Hilfsmaßnahmen wurden, wenn überhaupt, viel zu spät gesetzt.
Wenig überzeugend ist Davis ́ Lob der Subsistenzwirtschaft bei gleichzeitiger Kritik an modernen Bewässerungsanlagen und Infrastrukturmaßnahmen wie dem Bau von Eisenbahnlinien. Dass Eisenbahnen auch dazu benutzt werden können, Lebensmittel aus Hungergebieten abzutransportieren, was die Ernährungslage weiter verschlechtert, ist ebenso klar wie nicht die Schuld der Eisenbahn als solcher. Davis ́ Kritik an der Eisenbahn in Indien ist umso weniger verständlich, als er an anderer Stelle darauf hinweist, dass in manchen Teilen Chinas dringend notwendige Lebensmittellieferungen auf Grund fehlender Eisenbahnverbindungen schwer möglich waren. Moderne Bewässerungsanlagen können auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Pachtpreise unverhältnismäßig steigen und Händler Brunnen zerstören, um die Bauern in Abhängigkeit zu halten.
Ein wenig ärgerlich ist auch Davis ́ teils tendenziöse Darstellung der Fakten. So prangert er z. B. an einer Stelle Getreideexporte aus Indien nach England an (»Die Londoner aßen somit am Ende das Brot der Inder«). Nimmt man seine Zahlenangaben und berechnet, wie hoch der Anteil des exportierten Weizens pro Person und Jahr war, kommt man auf eine Menge von 0,056 kg pro InderIn im Jahr 1877 und 0,0012 kg im Jahr 1875.
Am interessantesten ist das Schlusskapitel Die politische Ökologie des Hungers, nicht zuletzt auch deswegen, weil hier endlich die Fragen beantwortet werden, die man sich während der Lektüre ständig gestellt hat. Im 18. Jahrhundert waren die »Unterschiede im Einkommen und Wohlstand zwischen den großen Zivilisationen des 18. Jahrhunderts relativ gering. (...) das stereotype Bild vom indischen Arbeiter als halbverhungerter Tropf im Lendenschurz« erweist sich als »völlig falsch«. Arbeiter im südlichen Indien verdienten mehr als ihre britischen Kollegen und ihre Ernährung war besser; ähnliches gilt für China. Als Hauptgrund für die zwischen Europa auf der einen und Lateinamerika, Afrika und Asien auf der anderen Seite auseinanderstrebende wirtschaftliche Entwicklung sieht Davis die Kanonenbootpolitik: »(...) jede ernsthafte Bestrebung einer nicht-westlichen Gesellschaft, auf die Überholspur der Entwicklung zu wechseln oder ihre Handelsbeziehungen selbst zu regulieren, [wurde]mit militärischen und wirtschaftlichen Sanktionen aus London oder einer konkurrierenden imperialistischen Macht beantwortet«.
Davis ́ aktuelles Buch ist wie seine Vorgänger höchst lesenswert und informativ, blind sollte man seinen Argumenten trotzdem nicht folgen.
Mike Davis
Die Geburt der dritten Welt
Hunger und Massenvernichtung im
imperialistischen Zeitalter.
Berlin, Hamburg, Göttingen:
Assoziation A, 2004,
460 S., 30,40 Euro
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.