Integration statt Verdrängung: Planung in der Favela
Besprechung von »FavelaMetropolis« herausgegeben von Elisabeth Blum und Peter NeitzkeElisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.)
FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo.
Basel/ Boston/ Berlin: Birkhäuser, 2004
175 S., 23,70 Euro
Wer an Brasilien und Architektur denkt, der denkt an die Bauten Oscar Niemeyers oder Lina Bo Bardis, an Lucio Costas Planungen für die Hauptstadt Brasilia.
Jorge Mario Jáuregui ist ein brasilianischer Architekt abseits dieser Vorstellungsbilder. Sein Werk wird wohl nicht Eingang in Hochglanzmagazine finden. Internationale Anerkennung ist ihm zumindest zuteil geworden: Im Herbst 2001 wurde dem gebürtigen Argentinier der renommierte Veronica Rudge Green Prize in Urban Design der Harvard-Universität zuerkannt, eine Auszeichnung, die bislang nur Stararchitekten erhielten. Und ein Jahr später wurden seine Arbeiten gemeinsam mit denen von Paulo de Mello Bastos aus São Paulo auf der Architekturbiennale in Venedig ausgestellt.
Jáuregui ist in den unzähligen Favelas von Rio de Janeiro tätig. Mit seiner Arbeit kehrt er zu den Grundaufgaben des Architekten zurück: Er entwickelt städtebauliche Konzepte für bestehende Siedlungen, plant infrastrukturelle Verbesserungen, baut Wohngebäude und Sportstätten. Künstlerische Selbstverwirklichung ist hier kein Thema. Dennoch blieben die großformatigen Fotografien, die in Venedig von den mehr oder weniger großen Interventionen in den Favelas ausgestellt wurden, ziemlich lange im Gedächtnis haften: Hier sah man Architektur im Rohzustand, nackt, ohne formale Spielereien, jedoch ohne ihren Qualitätsanspruch aufzugeben. Planungen, die unmittelbar ins alltägliche Leben der Menschen eingreifen, ihre Lebensqualität verbessern.
Der heuer in der Reihe »Bauwelt Fundamente« herausgekommene Band mit dem Titel FavelaMetropolis berichtet über Programme zur städtebaulichen Integration und Aufwertung von Favelas in Rio und São Paulo. Er dokumentiert einen produktiven Umgang mit sozialen und ökonomischen Widersprüchen, erklärt jedoch auch die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge.
82% der brasilianischen Bevölkerung leben in städtischen Agglomerationen, die Flucht vom Land in die Stadt und vom rückständigeren Norden des Landes in die Ballungsräume des Südens ist ungebremst. Aufgrund einer verfehlten Wohnbaupolitik der letzten Jahrzehnte, die ihre Standards an mittleren und oberen Einkommen orientierte, fehlen heute rund sechs Millionen Wohneinheiten. Die illegale Besetzung und Bebauung von (oft völlig ungeeignetem) Land ist daher für Familien mit niedrigem Einkommen die einzige Chance für ein Dach über dem Kopf. In den Großstädten Brasiliens liegt der Anteil der FavelabewohnerInnen zwischen 20 und 40%. Der offizielle Umgang mit der Existenz dieser Favelas hat sich seit den 1960er-Jahren deutlich gewandelt. Stand zuerst – vor allem während der Militärdiktatur – die vollständige Beseitigung und gewaltsame Umsiedlung der BewohnerInnen auf der Agenda, kam es zwischen 1975 und 1983 zur Verlangsamung dieser Tätigkeiten und zu einem Umdenkprozess. Doch erst mit dem Übergang zu demokratischen Institutionen und ersten freien Wahlen wurden der Zerstörung der Favelas ein Ende bereitet und Aufwertungsprogramme in Gang gesetzt. Aufwertung bedeutet sowohl infrastrukturelle und bauliche Verbesserungen, Integration in das Stadtgefüge, aber auch die Legalisierung des Landbesitzes. 1988 trat eine neue Bundesverfassung in Kraft, die unter anderem von größeren Städten einen Masterplan verlangt und das Recht gewährt, Privatland von weniger als 250 m² Größe nach fünf Jahren unbestrittenen Besitzes auf Dauer zu besetzen.
Das Buch beschreibt – vor allem am Beispiel Rio de Janeiros -, was auf verschiedenen Ebenen geleistet werden muss, um Programme zur Aufwertung der Favelas durchzuführen. Bevor PlanerInnen unterschiedlichster Profession mit ihren Eingriffen beginnen können, müssen die entsprechenden rechtlichen, verwaltungstechnischen und finanziellen Rahmenbedingungen durch die Stadtregierungen geschaffen werden. Rios beispielhaftes Favela-Bairro-Programm hat seine rechtliche Grundlage im 1992 beschlossenen Masterplan für die Stadt, die Finanzierung erfolgt(e) hauptsächlich über Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Das Programm will die Favelas mit einer sanitären Grundausstattung versehen, die Siedlungen räumlich neu ordnen (Zugänglichkeit und interne Verbindungen schaffen bzw. verbessern, öffentliche Plätze schaffen), soziale Dienstleistungen (Kindertagesstätten, Arbeitskooperativen, Beratungsstellen) bereitstellen und den Landbesitz legalisieren. So sollen aus StadtbewohnerInnen StadtbürgerInnen mit entsprechenden Rechten werden.
FavelaMetropolis bietet umfassende und abwechslungsreiche Informationen über eine wegweisende Stadtpolitik mit wissenschaftlichen Aufsätzen, Vorstellungen verschiedener Programme und ihrer Ziele, Interviews und kurzen Projektpräsentationen. Der erste, Rio de Janeiro gewidmete Teil des Bandes ist umfangreicher und informativer: Das hat seinen Grund wohl auch darin, dass das Favela-Bairro-Programm in seinem breiten, ganzheitlichen Ansatz immer noch einzigartig in Lateinamerika ist. J. M. Jáuregui bezeichnet in einem langen und sehr interessanten Gespräch Rio als ein »Zukunftslaboratorium«, dessen Weg mittlerweile auch in Argentinien, Venezuela oder Mexiko Nachahmer gefunden hat.
Einen nur schwer verdaulichen Brocken haben die HerausgeberInnen jedoch an das Ende des Buches gesetzt: Klaus Hart hat einen sehr umfassenden und vor allem desillusionierenden Beitrag über den Alltag in brasilianischen Favelas geschrieben. Seine ernüchternden Wahrnehmungen über die exzessive Gewalt, die Macht der Drogenhändler, die Kindersoldaten und die fatalistische, gottergebene Lebenseinstellung der Menschen verursachen nach der Lektüre ein Gefühl von Ratlosigkeit: Sind ohnehin alle Anstrengungen umsonst?
Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.)
FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo.
Basel/ Boston/ Berlin: Birkhäuser, 2004
175 S., 23,70 Euro
Peter Hinterkörner