Kathmandu
Im Schatten des HimalayaAnkunft im einzigen Hindu-Königreich der Welt [1]
Wer an einem späten Abend in der Karwoche am Flughafen von Kathmandu landet, dem wird schon anhand der merkwürdigen Ortszeit, die genau um 4 Stunden 40 Minuten vor unserer Zeit liegt, und dem Kalender, der das Jahr 2060 anzeigt, intuitiv klar, dass er sich auf einem Flecken des Globus befindet, wo andere Regeln für Zeit und Raum gelten. Die stickige Flughafenhalle erinnert an den Ostblock, und nach mühsamer Erledigung der Einfuhrmodalitäten tritt man aus dem Gebäude in die schwüle Nacht.
Das Hotel hat glücklicherweise ein Auto geschickt, da an diesem Tag noch Generalstreik herrscht und keinem privaten Auto oder öffentlichen Verkehrsmittel bzw. Taxi eine Fahrt erlaubt wird. Seit vor ca. zwei Jahren der damalige König von einem Verwandten erschossen worden ist und durch einen unbeliebten und offensichtlich hauptsächlich an Bereicherung denkenden Onkel ersetzt wurde, der das Parlament schon für einige Zeit beurlaubt hat, wird das Land durch ständige Streiks erschüttert, und eine maoistische Befreiungsarmee versucht, das Zentrum des Landes vom Rest abzuschneiden. Hinter den Maoisten stehen allerdings die Chinesen, die sich hier, von der Weltöffentlichkeit unbemerkt, eine nördliche Aufmarschbasis mit größter strategischer Bedeutung gegen Indien sichern möchten. Dieser Kampf des korrupten Regimes gegen die ebenfalls nicht unproblematischen Rebellen währt schon über zehn Jahre und hat bereits über zehntausend Todesopfer zu verzeichnen, ohne dass er bisher von den westlichen Medien in größerem Umfang zur Kenntnis genommen worden ist. In Kathmandu selbst sind große Armeeteile stationiert und in den zentralen Bereichen der Stadt postiert; sie zählen daher zum gewohnten Straßenbild.
Die Fahrt vom Flughafen durch das nächtliche Kathmandu verläuft wegen der völligen Menschenleere der Stadt auf den unbefahrenen Straßen gespenstisch; außer gelegentlichen Militärfahrzeugen begegnet uns kein Auto. In der unnatürlichen Ruhe der Nacht lassen sich die Häuser und Gebäude erkennen, die selbst bei schlechtem Licht ihren abgewohnten und verkommenen Bauzustand preisgeben. Einige verwirrte, dürre Rinder, die hier wie in allen hinduistischen Kulturen heilig sind, streunen auf der Straße. Dennoch lassen sich breite Avenue-ähnliche Straßen und einige Paläste und öffentliche Gebäude auf geisterhafte Weise im Mondlicht ausmachen, und man wird erst bei Tag mit dem über den ganzen Tag anhaltenden Verkehr der schäbigen Autos und Busse und dem Gekreisch der Hupen, den Benzin- und Dieselabgasen, den geborstenen Straßen und Fußwegen, die mit dem Staub der Straße überzogen sind und in der stechenden Sonne eine üble Ausdünstung erzeugen, Bekanntschaft machen.
Doch die Atmosphäre der Unwirklichkeit setzt sich auch im Hotel in anderer Weise fort. Nach einem Begrüßungsdrink und dem Rückzug ins Hotelzimmer macht man Bekanntschaft mit einem Fernsehprogramm, das neben einigen nepalesischen Sendern an die siebzig indische Stationen empfängt. Darunter einige mit ausschließlich religiösen Programmen, wo über viele Stunden hinweg indische Brahmanen inmitten ihrer Anhänger Feste feiern, bei ständiger Untermalung mit dieser Art indischer Musik, die durch ihre Instrumente und ihren rhythmischen, gleichförmigen Klang wohltuend auf die Chakren einwirkt und die Prediger langsam in einen friedlichen Zustand religiöser Verzückung geraten lässt, in dem sie kaum mehr sprechen und nur mehr gelegentlich wenige Sätze in unnachahmlicher Weise intonieren, um gleich wieder in meditative Versenkung zu fallen. Zum Abschluss noch die Nachrichten eines nepalesischen Senders, Meldungen über die politische Lage und dann noch Bilder vom Himalaya, wie sie in Bergsteigerträumen vorkommen mögen, aber auch dem Hindu die religiöse Erhabenheit dieses Sitzes des hinduistischen Pantheons vermitteln. Daher ist die Präsenz des Himalya auch in Kathmandu stets spürbar, und obwohl man ihn durch den großen Dunst kaum je sehen kann, halten die Leute die Nähe dieses »Daches der Welt« für einen großen Segen, den ihnen die Götter gespendet haben.
Altstadt
Der Eintritt in die Altstadt gleicht einer Zeitreise in den Orient – die Straßen sind überfüllt, verstopft, voller Gerüche und Geräusche. Vor allem der schwere, betörende Geruch der zahllosen Räucherstäbchen, die in den Läden, den Wohnungen und den Altären glimmen, erzeugt eine betäubende Wirkung, die manchmal, durch den Zustand der Ermüdung verstärkt, eine leichte Trance bewirkt und die Traumhaftigkeit des Geschehens noch verstärkt: der Rauch der alten Autos und Mopeds, die sich durch das Menschengewimmel wühlen, das elektrische Licht der winzigen Läden, das oft Tag und Nacht brennt. Die unzähligen kleinen Altäre, oft nur Schreine, oft in kleinen Tempeln, werden ständig von eilig dahinhuschenden Gestalten für ein kurzes Gebet aufgesucht, Hunderte Opferschalen, in denen die Öl- oder Buttergaben, je nach hinduistischem oder buddhistischem Glauben, dünsten, und die frischen Blumen- und Pflanzenopfer, die ständig erneuert werden, legen Zeugnis einer tiefen, unverbildeten Volksfrömmigkeit ab, die berührend wirkt und als ein Zeichen eines zutiefst authentischen Humanums die Fremdheit des Europäers, der in seinem rationalen Kosmos lebt und trotz seiner leibhaftigen Präsenz das völlige Abgeschnittensein von dieser Welt verspürt, deutlich macht und kontrastiert.
Die Altstadt von Kathmandu[2] liegt am Ufer des Zusammenflusses von Baghmati und Vishnumati und bildet ein Rechteck, das von nord-südlichen und ost-westlichen Straßen durchzogen wird. Dieses Rastersystem wird von einer Diagonale geschnitten, der Basarstraße, deren Verlauf auf dem uralten Handelsweg zwischen Indien und Tibet beruht. Diese noch heute bestehende Form der Altstadt geht auf die Planung und Neugründung des Königs Mahendra Malla im 16. Jahrhundert zurück, der die rechteckigen Straßenzüge anlegte und in der Mitte einen riesigen Tempelberg für die Göttin Taleju Malla, eine mächtige Spielart der großen Mutter, errichtete. Dieser Kult prägt in zahllosen Varianten und Spielarten das Leben der Stadt, die eigentlich auf einer in Europa unbekannten Vereinigung von verschiedenen Clans der Stadtbauern beruht, die ihre Dörfer in die Stadt verlegt haben, und bildete bis vor kurzem den religiös-kulturellen Schwerpunkt der nepalesischen Gesellschaft.
Obwohl Kathmandu ursprünglich eine buddhistische Stadt war und man noch zahlreiche klosterähnliche Tempelanlagen finden kann, ist das Zentrum der Altstadt mit dem Königspalast und den vielen Gedächtnistempeln aufgrund der religiösen Orientierung der Herrscherfamilien der Malla-Zeit ausschließlich hinduistisch geprägt. Dieses Zentrum der Altstadt ist ein zusammenhängendes Geflecht aus Palasthöfen, Plätzen und Tempeln und bildet den Bezirk des königlichen Hanuman Dhoka-Palastes, der in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Die Gebäude des Palastbereiches stammen aus der Zeit zwischen dem 16. Jahrhundert und 1908. Unter Mahendra Malla entstanden auch drei riesige Pagoden in der Nähe der Basarstraße. Der Palastkomplex spiegelt die Architekturgeschichte des Landes wider, die auf dem aus Holz gefertigten Newar-Haus gründet, dessen Front sich durch reichhaltige Schnitzereien und Erker auszeichnet. Im 19. Jahrhundert wurde dieser Stil zunächst monumentalisiert und stellte eine heroische Form des Newar-Hauses dar, bis man sich an den neuen Vorbildern aus Nordindien orientierte und eine lange einheitliche Hauptfront in Anlehnung an indische Paläste errichtete. Der alte Maßstab änderte sich immer mehr, die einzelnen Trakte wurden länger, höher und voluminöser, und der weiße Verputz mit seinen Stuckelementen brachte eine neue fremde Note in das traditionelle, aus Ziegel und farbigem Holzschnitzereien und vergoldeten Kupferdächern gefertigte Bild der Palaststadt. 1908 wurde noch eine pompöse Thronhalle im barocken Stil angefügt, obwohl der Umzug der Könige in ihre neuen Paläste bereits lange zuvor erfolgt war.
In diesem Altstadtbereich, der an den Palastkomplex anschließt und ihn umgibt, liegt aber auch noch eine Tempelstadt, die auf relativ engem Raum über 40 phantastische Tempel aufweist, von denen jeder eine eigene ikonografische und religiöse Beschreibung verdiente. Diese wäre aber ohne Kenntnis des hinduistischen Pantheons vergeblich, da jeder dieser Tempel einer besonderen Gottheit oder einer spezifischen Inkarnation einer Hauptgottheit mit einer hochkomplexen Bedeutung gewidmet ist. Denn die großen Götter pflegen sich den Menschen in vielerlei Gestalten zu zeigen und sind in ihrer Wandlungsfähigkeit nahezu nicht begrenzbar. Daher sei nur auf den für Kathmandu und die benachbarten Städte Patan und Bhakhapur besonders wichtigen Kult der großen Muttergöttin Durga hingewiesen, der sich in Kathmandu in der Existenz des höchsten Tempels der blutrünstigen Göttin Taleju ausdrückt: eine dreidachige Pagode auf einem künstlichen Hügel, die mit 12 Terrassen auf eine Höhe von 37 Metern kommt und für Jahrhunderte der höchste, weithin sichtbare Bau der Stadt war. Die Göttin Taleju Bhavani kommt der Sage nach aus Bhaktapur, einer ca. 30 km entfernten Stadt, die noch heute in unglaublichem Ausmaß traditionsgebunden lebt. Der Tempel der Taleju darf auch heute nur vom König, seiner Familie und Priestern betreten werden. Er hat breite Portale, die in einen Umwandlungsgang führen, der die Cella in der Mitte umschließt. Alle vier Seiten des Tempels zeigen Varianten der großen Mutter in Form der weiblichen Gottheiten Taleju, Durga, Bhavani und Mahishasuramardini. Aus den Fenstern sehen grell bemalte Bhairava-Masken der »Schwarzen Schrecklichen«, einer sechsarmigen Gottheit, die eine Manifestation des Shiva in seiner zerstörerischen Form darstellt. Nun vermag eine Ikonografie des Tempels kaum das zu vermitteln, was hier an religiösen Gefühlen in den Seelen der Gläubigen vor sich geht.
Eine vage Idee von den Vorstellungen, die durch diese große Mutter in all ihren Erscheinungsformen hervorgerufen werden, erhält man vielleicht am besten durch eine Beschreibung des jungen Mircea Eliade, der im Zuge seines Indienaufenthaltes 1929 Durga als die Göttin der Orgien beschreibt. »Von ihren Orgien des Fleisches, des Weines und des Blutes erfährt man aus jener Passage des Mahabharata, wo Durga, die jungfräuliche Göttin, Mahesha, den Dämon des Schreckens, tötet. Durga, Göttin mit schwarzem Leib – dem dunkelblauen Krishna ähnlich –, mit einem Kollier aus fünfzig Schädeln um den Hals, die Stirn mit Pfauenfedern geschmückt, ein breites strenges Lächeln im Gesicht, das tantrische Orgien ankündigt. (...) Ihre Aspekte sind zahlreich und widersprüchlich; hier noch ein Symbol der kosmischen Vernichtung, des makabren Tanzes auf dem leblosen Leib Shivas; dort wieder Ikone der fruchtbaren, gebärenden Mutter, in der die ekstatische Gefühlsmystik Bengalens ihre Gestalt findet. Die Dichter und die Heiligen besingen sie, Göttin, deren wahres Antlitz verborgen bleibt, Göttin, die überall präsent ist, in der Begeisterung des Regens und in der erbarmungslosen Hitze, in den Blitzen und auf den Feldern, in der Wehmut der Seele und dem Überschwang der wilden Tempelorgien. Im Laufe der Jahrhunderte religiöser Überlieferung nahm Durga jede Form an: Sie war die Schwester Krishnas, die Gattin Shivas, war zuerst makellose Jungfrau, wurde Uma genannt, galt als Verkörperung der Veden und Brahmas – Indiens kostbare Heiligtümer – und wurde später mit orgiastischen Neigungen ausgestattet. Durga, Uma Kali – die Göttin hat Dutzende Namen, Gesichter, Aspekte. Die fünfzig Schädel symbolisieren gleichzeitig die Grausamkeit ihrer Rituale und das mystische Alphabet ihrer geheimen Kulte. Sie wird auf Furcht einflößende Weise dargestellt, fast nackt, blutbespritzt mit dem Fuß auf den Dämon tretend und den Tanz des Todes und der Schöpfung tanzend, wobei das Kollier aus Schädeln an ihrem entfesselten Leib baumelt. Ihr Fest beginnt Mitte Herbst.«[3]
Die Stadt als Mandala
Kathmandu ist wie andere nepalesische oder indische Städte nicht aufgrund bestimmter topologischer Prinzipen errichtet, wenn man von der Kreuzung der Handelsstraßen absieht, sondern folgt alten, über Generationen festgelegten Vorstellungen der Ordnung einer Stadt, die zunächst das Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen unterschiedlicher Kasten räumlich und architektonisch organisiert und gleichzeitig die höheren Prinzipien zu den untergeordneten in Beziehung setzt. Diese Vorstellungen betreffen den gesamten Kulturraum Nepals und sind insbesondere im benachbarten Bhaktapur noch weitgehend in der Stadtgestalt erhalten, die nach der Form eines Mandalas konzipiert ist.[4] In Bhaktapur bilden die neun weiblichen Gottheiten ein yantra. Eine befindet sich im Zentrum, die anderen acht (die acht Mütter) bilden gleichmäßig angeordnete Punkte eines die Stadt einschreibenden Kreises, die damit die Stadt in acht Segmente einteilen. Zu einem hohen Festtag werden die Schreine dieser peripheren Tempel in feierlichen Prozessionen in den Zentraltempel gebracht, um eine Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie in Form einer radialen Linie herzustellen. Die außen gelegenen Schutzgottheiten müssen ihre Kraft im Inneren erneuern. Diese Anordnung der acht Kreissegmente, oder eines Rades mit acht Speichen, bildet die Grundfigur der hinduistischen Stadt, die noch an zahlreichen Orten, auch in Indien, zu finden ist. Die enorme religiöse Bedeutung für die BewohnerInnen ergibt sich dadurch, dass sie durch die patrilineare Abstammung ihrer Kaste einem dieser Sektoren und dessen Schutzgottheit zugeordnet sind. Jeder Wechsel in einen anderen Sektor bedarf eines Schutzrituals, insbesondere vor den Astamatrika-Schreinen (Acht-Göttinnen-Schreinen). Zu bestimmten Zeiten ziehen die BewohnerInnen neun Tage von einem Schrein der Göttinnen zu nächsten. Die Quelle der Kraft liegt im Zentrum des mandala, obwohl diese höchste Position im Schema nicht betont wird und die acht peripheren Gottheiten im Sinne der Entsprechung in einer höheren kosmischen Ordnung als gleichwertig betrachtet werden.
Die Architektur der Stadt steht in enger Beziehung zur religiösen Vorstellungswelt des Hinduismus. Sie wird in Bhaktapur durch eine zweite Struktur architektonischer Gesten, die bis in die Gestalt der Häuser und die Anordnung der Plätze reicht, mit der sonstigen städtischen Topografie verbunden. Diese Verbindung von religiöser Idee und realem Standort wird durch große raumgreifende Rituale ständig erneuert. Diese gemeinschaftlichen Prozesse, die das Volk in der Form von leidenschaftlicher Anteilnahme feiert, hat unterschiedlichste Gestalten. Diese reichen von der einfachen Umschreitung eines heiligen Ortes durch den Priester bis hin zu großen religiösen Festen, in denen der Bevölkerung etwas über das Wesen ihrer Stadt vermittelt wird. Durch das rituelle Geschehen wird in einem kollektiven Ereignis die ideale Form des Kosmos auf die Stadt übertragen. Während jedoch in Bhaktapur aufgrund der weitgehenden Unversehrtheit der Stadt all diese Ereignisse wie durch die Inszenierung eines göttlich inspiriertes Balletts ablaufen und sich auch vor dem ethnologisch informierten Touristen, wie er sich in der Gestalt des Autors dieser Zeilen manifestiert, dartun, verhält es sich in Kathmandu weitgehend anders. Auch in Kathmandu bestand eine ähnliche religiöse, räumliche Organisation der Muttergottheiten mit Zentrale und ihren Außenstellen, doch ist es schwieriger, das Gesamtbild zu rekonstruieren. Jedenfalls gibt es noch einige Tempel, die den Matrika geweiht sind, wie etwa den Naradevi-Tempel, der der Chamunda, Shveta Kali zugeignet ist und genau an der Stelle der Kreuzung der uralten Ost-West- mit der Nord-Süd-Straße steht, also jener Stelle, die wesentlich älter als der Ort des Taleju-Tempels ist, der ja seit dem 16. Jahrhundert das Zentrum der städtischen Kraft darstellt.
Die Stadt als Clangebiet
In Kathmandu ist die Altstadt, obwohl trotz zahlreicher Verletzungen im Wesentlichen noch vorhanden, durch ein großzügiges und zugleich chaotisches Stadterweiterungsprogramm nicht nur in ihrer räumlichen, sondern auch in ihrer Bedeutungsstruktur stark verändert worden, so dass sich die Organisation der ansässigen Clans, bzw. Kasten, die sich stadträumlich in der Form einer Einheit, eines tvah, einer Unterabteilung des Clans manifestiert, ihr Territorium neu formatieren musste. Durch Grundstückspekulationen und neue EigentümerInnen verloren die tvah Bauplätze an Kastenfremde und mussten empfindliche Verletzungen der ursprüngliche Einheit des Gebiets hinnehmen. Das Areal gleich nun der typisch wildwüchsigen Mischung von Alt und Neu, ohne jedoch seine althergebrachte sakrale Formatierung aufgegeben zu haben. Zur Beschreibung ihres Quartiers verwenden die Ansässigen nun urbane Merkzeichen zweierlei Kategorien.[5] Einerseits religiöse Zeichen, wie die Tempel, andererseits topografische Elemente wie markante öffentliche Gebäude oder kleine Viertel. Sie führen jedoch auch eine interessante Begriffsspaltung für Straßen ein: nämlich Hauptstraßen und Alleen. Die Hauptstraßen fungieren in einem größeren städtischen Maßstab als Verbindung von weit auseinander liegenden Orten und sind für den tvah ohne Bedeutung, die Alleen jedoch erhalten ihre Bedeutung durch den Weg zu einem bestimmten Tempel oder religiösen Ort, auch wenn er weit außerhalb des tvah liegt. Als sakrale Merkzeichen dienen sie zur Visualisierung ihres Territoriums. Die eigentlichen topografischen Grenzen des tvah sind daher gar nicht klar zu beschreiben, viel eher entspricht diese Charakterisierung dem gemeinsamen räumlichen Vorstellungsbild dieser Kaste.[6]
Man kann diese inneren Bilder der BewohnerInnen am besten während einer Prozession erahnen. Das Rätsel dieser Atmosphären des Festes besteht im Ausdruck des Unausweichlichen und Schicksalhaften, des völligen Ernstes der TeilnehmerInnen im körperlichen Nachvollzug der mechanischen Vorgänge der astralen Abläufe, der sich in seiner zwingenden Expressivität selbst auf den Zuschauer überträgt. Unausweichliche Lebensbestimmung vereint sich mit tiefer Freude, die dem kollektiven Charakter des Ereignisses entsprechend auch rauschhafte Züge annehmen kann.
Stadterweiterung und nepalesische Moderne
Der erste und allergrößte Modernisierungsschub der Stadt Kathmandu wurde durch ihre Könige vollzogen, indem sie im 19. Jahrhundert eine große Nord-Süd-Achse, den Kanthi Path, der in Form einer Tangente an die Altstadt angelegt wurde, erbauen ließen. Diese Straße schließt die alten Viertel der Stadt nach Osten hin ab und öffnet den Raum für die Stadterweiterung. Dort wurden im 19. Jahrhundert auch einige öffentliche Gebäude in repräsentativer Bauweise errichtet, das dreiflügelige Military und das Bir Hospital, die Town Hall und die langgestreckte Darbar High School, die in beiden Geschoßen lange Arkadenreihen aufweist.[7] Die ArchitektInnen waren aus Nepal und fühlten sich offensichtlich durch Vorbilder des kolonisierten Indien angeregt, obwohl Nepal immer seine Unabhängigkeit bewahrt hat und die Engländer sogar gegen Indien durch die berühmten Gurkha-Truppen unterstützte. Es muss wohl ein enormer Akt der räumlichen Aufsprengung gewesen sein, die enge und verwinkelte Altstadt zu verlassen und eine Avenue nach dem Muster der modernen europäischen Staaten in das damals unverbaute Land hineinzutreiben – ein völlig neues Verhältnis zwischen Gebäuden und unverbautem Raum, eine Situation, die für Europäer den Eindruck von Größe, von splendor vermitteln musste, für die Hindus und Buddhisten jedoch einen jähen Aufbruch in eine völlig ungewisse Zukunft bedeutete. ´ Denn das religiöse und soziale Leben konnte sich dort nirgends ausbreiten, da diese neue Straße als völlig unverständliche und gefährliche Einrichtung angesehen werden musste, die allenfalls den Transport negativer Energien in Gestalt von Dämonen und anderen volativen Geistern ins Zentrum zuließ. Es ist zu vermuten, dass man von der Seite der moderner gesinnten Könige die Anregungen durch indische Städte aufgriff, die von Engländern ebenfalls nach neuen städtebaulichen Kriterien erweitert wurden, die hier allerdings ohne jegliches weitere Programm realisiert wurden, wenn man von der Errichtung der wenigen öffentlichen Gebäude und der zahlreichen Königspaläste absieht. An dieser Straße liegt vor der Altstadt auch ein schon im 17. Jahrhundert künstlich angelegter See, Rani Pokhari, der See der Königin, der auch als Wasserreservoir dient und in dessen Mitte eine Insel mit einem Tempel liegt. Der König erbaute ihn zum Trost seiner Gattin wegen des Verlusts ihres Sohnes und ließ sich selbst als Reiter auf einem Elefanten am Südufer des Sees verewigen. Neben dem See liegt noch das Trichandra-College, das noch den Namen des Vorläufers der jetzigen Universität trägt.
Mit der Rana-Dynastie kamen europäische Repräsentationsmodelle in der Gestalt französischer Paläste und Gärten nach Nepal, und zahlreiche Mitglieder der Familie ließen prächtige Paläste mit großen Parks vor allem entlang der zweiten großen Straße, der Darbar Marg, erbauen. Inspiriert vom eklektizistischen Stil der Ecole des Beaux Arts, die nun auch in England bestimmend geworden war, errichtete man große und sogar riesige Herrenhäuser in der Art der Renaissance mit dem Gefühl für Grandeur und stattete sie mit den aus Europa eingeführten Statussymbolen wie riesigen Kronleuchtern, Konzertflügeln, Portieren, Kristallspiegeln, französischen Rokokomöbeln, Gemälden, Marmorfußböden und Springbrunnen aus. Der Palast Singha Durbar ist der großartigste Palast dieser Rana-Epoche. Die riesige Anlage wurde vom Premierminister Chandra Shamster Rana als persönlicher Wohnsitz von den nepalesischen Architekten Kumar und Kishor Narshing geplant. Fünfzig Hektar Land mussten dafür planiert werden, was der halben Grundfläche der Altstadt entspricht. Das Gebäude bestand aus sieben hintereinander liegenden Höfen, die Prachtfassade zur Straße hin befand sich nur an der Schmalseite des Palastes, der über tausend Räume umfasste und als die größte Privatvilla Asiens gegolten haben soll, also sogar die Paläste der indischen Maharadschas übertroffen haben muss, ehe er um 1970 abbrannte. Mittlerweile ist er wieder teilweise aufgebaut und dient als Regierungsgebäude.
Noch einige weitere alte Rana-Paläste existieren, von denen einige zuHotels umgebaut wurden. Das »Yak und Yeti«-Hotel weist noch heute einen riesigen Speisesaal und Kristallraum auf, der gigantische Luster birgt. Das sind Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Könige des Landes offensichtlich durch die »Grand Manner« des Beaux-Arts-Stils angesteckt wurden, der damals aktuellen Ausdruckform des Imperialismus, nach der in den großen Hauptstädten der Welt, Paris und London, auch New York gebaut wurde. Dieser Neo-Barock löste in Indien die Neogotik des viktorianischen Stils ab, in dem man in Nepal kein derartiges Gebäude sehen kann – vermutlich wurde der Stil aufgrund seiner dezidiert christlichen Aussage abgelehnt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der gelegentliche, wohl von Indien ausgehende Versuch einer Synthese zwischen indigener und klassizistischer Architektur, der sich im Ornament, aber auch in der Organisation des Gebäudes manifestiert. So ist mir noch der in ein Hotel umgewandelte neobarocke Palast in Erinnerung, hinter dessen prächtiger, weißer Fassade und zentralem Portikus mit acht großen Säulen sich anstelle einer erwarteten entsprechenden Prachtstiege oder großen Lobby eine winzige Rezeption und nur schmale Gänge, die seitlich nach beiden Richtungen wegführten, befanden. Hier war trotz der klassizistischen Außenstruktur noch die Organisation des hinduistischen Hauses vorherrschend, das nach einer komplizierten Ordnung der graduellen Verschlossenheit funktioniert und das keine voreilige Öffnung nach außen zulässt und auch den Hotelbetrieb ziemlich mühsam gestalten dürfte, da man sich auf engen und verwinkelten Hintertreppen bewegt und merkwürdige lange, dunkel gestrichene Gänge in ein finsteres, schwer ergründbares Gebäude führen.
Ein Palast aus der Rana-Zeit sei noch erwähnt, der ebenfalls um die Jahrhundertwende errichtet wurde und dessen Bewohner aufgrund der großen Bewunderung, die er für Kaiser Wilhelm II hegte, seinen Namen Keshar in Kaiser umänderte. Auf dem neun Hektar großen Grundstück wurde neben dem Palast, der heute als Kulturministerium dient, außerdem der »Garden of Dreams«, der den kosmopolitischen Geist des Kaisers spiegelte, angelegt, ein Ensemble von Pavillons, Brunnen, dekorativen Gartenmöbeln, Veranden, Pergolen, Balustraden, Urnen und Gehege für Vögel. Jeder der sechs Jahreszeiten, die es in Nepal gibt, wurde ein Pavillon zugeordnet. Sie bilden den architektonischen Rahmen des Gartens. Diese Anlage wird heute unter österreichischer Leitung und Finanzierung vom Architekten Götz Hagmüller restauriert. Er lebt seit über zwanzig Jahren in Nepal, in einem wunderschönen Haus, einer alten Pilgerherberge in Bhaktapur.
Das Haus. Soziale und rituelle Organisation
Die Newar-Städte im Tal von Kathmandu haben sich entlang alter Handelsstraßen entwickelt und weisen eine ähnliche Struktur auf.[8] Verhältnismäßig enge Gassen, die einmal den alten Handelspfaden folgten, treffen sich sternförmig und bilden Plätze, die sich mit Brunnen, Schreinen, Pagoden und Stupen zu kleinen Subzentren formen. Die mit Ziegeln gepflasterten Straßen und Plätze werden von mehrstöckigen Wohnhäusern gesäumt, die trotz ihrer ähnlichen Bauweise unterschiedliche Fassaden aufweisen. Die Innenhöfe, häufig auch mit Brunnen und Hausaltären ausgestattet, erweitern den Wohnraum. Öfters bilden die Häusergruppen ein richtiges Labyrinth, das man nur durch Höfe und Durchgänge erschließen kann. In diesen Räumen, die von den Clans bzw. tvah bewohnt wurden, spielte sich das Leben ab. Kleine Märkte wurden abgehalten, Vieh aufgetrieben, die Ernte oder Tongeräte getrocknet und das Trinkwasser aus den Brunnen geholt. Diese funktionale Organisation der Städte existiert kaum mehr. Die Brunnen sind versiegt, die Kanalisation verfällt, und die Innenhöfe sind zu Mülldeponien geworden. Es gibt zwar mittlerweile in einigen Stadtvierteln Müllabfuhr, aber in anderen wird der Abfall einfach auf den Grünflächen neben den Häusern entsorgt. Ebenso werden nur Teile der Stadt durch Wasserleitungen versorgt.
Die Newar entwickelten eine städtische Kultur, die ihren authentischen Ausdruck im Newar-Haus vermittelt: einem Fachwerkbau, der mit Salholz, gebrannten Ziegeln und Dachpfannen oder auch luftgetrockneten Lehmziegeln erstellt wird und der in der Regel drei, manchmal auch vier Stockwerke aufweist. Das Haus ist normalerweise rechteckig, sechs Meter tief und an der Front zur Straße vier bis acht Meter lang. Die Räume sind niedrig, so dass sich ein hochgewachsener Mensch darin kaum aufrichten kann. Meist ist das Haus um einen Innenhof errichtet, und eine einzige Tür führt von der Gasse in die Wohnung. Die Besonderheit des Newar-Hauses besteht im Balkenwerk der Tür- und Fensterrahmen, die im zweiten Stock zumeist in Erkerform ausgebildet sind und mit Holzgittern anstelle von Glasfenstern verschlossen werden. Diese Holzarbeiten zeichnen sich durch besonders feines Schnitzwerk aus und gelten als unvergleichlich.
Das Erdgeschoß enthält zur Straße hin einen Laden, die Werkstatt oder einen Lagerraum, auch Ställe für das Vieh. Im Innenhof ist häufig ein überdachter Umgang oder eine Veranda. Im ersten Stock finden sich die Wohnräume der Familie, in die auch die Gäste geführt werden. Erst im obersten Geschoß sind die Küche und der Speiseraum eingerichtet, da die strengen Reinheitsgebote der Kasten diesen Raum vor dem Zutritt von Fremden schützen. Die Verbindung der einzelnen Ebenen erfolgt durch steile, enge Treppen. Das Haus hat also eine vertikale Ordnung, derzufolge mit zunehmender Höhe die Sakralität zunimmt, so dass der oberste Bereich für Familienfremde aufgrund der strengen Reinheitsgebote praktisch unzugänglich ist. Im übrigen müssen sich gläubige Hindus nach der Einnahme einer Mahlzeit mit AusländerInnen im Nachhinein einer Reinigungszeremonie durch einen Priester unterziehen, wovon sie aus Gründen der Diskretion AusländerInnen gegenüber natürlich keine Mitteilung machen.
Die im Erdgeschoßbereich untergebrachten Tiere wie Ziegen, Hasen oder Hühner dienen auch der Ableitung der bösen Kräfte, deren Eindringen in das Haus nicht völlig zu unterbinden ist, und stehen auch jederzeit für eine Opferung zur Verfügung. Neben der vertikalen Differenzierung gibt es auch eine Teilung zwischen dem vorderen und dem hinteren Bereich, die unten durch Mauern und im mittleren und oberen Bereich durch Säulen markiert ist. Im mittleren Stock befinden sich die Repräsentationsräume zum Empfang von Gästen und zur Abhaltung von Festen und Passage-Riten. In den Häusern der obersten Kasten ist dort auch der Schrein der Clan-Gottheit untergebracht, einen Stock höher ist der Altar des Hausgottes aufgestellt. Außerdem ist dem Haus eine Art von Halbkreis bzw. Kreissegment vorgeblendet. Dieser Raum wird durch einen Stein markiert, der ca. drei Fuß vor der Eingangstür in den Boden eingelassen ist und auch den Erkerraum der oberen Stockwerke begrenzt. Pikha lakhu heißt dieser schöne Stein, und man verortet dort den Sitz der Schutzgottheit, der auch als Ort für alle Passage-Riten zwischen dem Hausbereich und der Außenwelt dient und täglich gereinigt und poliert werden muss, will man die Hausgeister günstig stimmen.
Seit einigen Jahrzehnten ist auch in Kathmandu der Fortschritt eingebrochen, und die traditionellen Newar-Häuser verschwinden zunehmend aus dem Straßenbild bzw. werden durch hässliche grau verputzte Hohlziegel- und Betonbauten ersetzt. Die BewohnerInnen der Stadt dürften von der Erfindung des Stahlbetonbaus dermaßen angetan sein, dass sie auf schmalsten Grund vielstöckige Häuser errichten, die den Charakter permanenter Baustellen annehmen, da man das vorhandene Geld restlos verbaut und anstelle eines Daches stets die Stahlarmierung für ein künftiges Stockwerk in der Form von rostigen Stahlbüscheln gegen den Himmel ragen lässt. Die alte Harmonie der Newar-Stadt existiert nur noch in Fragmenten, und die Verdichtung oder planlose Erweiterung nimmt ständig zu. Häufig sieht man in den Außenbezirken mechanische, oberflächliche Imitationen des internationalen Stils, die zumeist abgenutzt und kaputt wirken und deren Zementverputz sich gräulich-schwarz vor dem Hintergrund abhebt. Immerhin hat man aber zu einer klimatisch verträglicheren Ziegelbauweise zurückgefunden, und die zahlreichen kleinen Brennereien des Umlandes fallen durch die rauchenden und qualmenden Schlote auf. Die Stadt dehnt sich weiter aus, ohne richtig funktionierenden öffentlichen Verkehr. Das tägliche Chaos auf der Straße zählt zum Alltag, und die BewohnerInnen sind schon froh, wenn sie – auf dem Trittbrett eines klapprigen Busses stehend – ein Stück des Weges nicht zu Fuß gehen müssen.
Fußnoten
Ulrich Wiesner, Nepal, Köln 1997, Nach einer Volkszählung von 1981 sind 90 % Hindus und nur 5,3 % Buddhisten – eine Zahl, die in Wirklichkeit zwar höher liegen dürfte, aber die Grundproportion nicht berührt. Das religiöse Leben ist von einer hier nur anzudeutenden Komplexität, Buddha selbst wurde übrigens in Nepal geboren. Durch den Tantrismus ergab sich auch eine gewisse Verschmelzung von Hinduismus und Buddhismus. Die Hindus sehen in Buddha auch die neunte Inkarnation Vishnus; daher werden die Religionsstätten gegenseitig respektiert und oft durch gemeinsame Feste rituell genutzt. ↩︎
Kathmandu hat offiziell an die 500.000 Einwohner; die wahre Größe dürfte aber dennoch um einiges höher liegen. Dazu auch: Wolf Donner, Nepal, München 1990 ↩︎
Mircea Eliade, Indisches Tagebuch, München 1996, S. 182 ↩︎
David Gellner, The anthropology of Buddhism and Hinduism, New Delhy 2001, S. 281, Kap. 12. ↩︎
Annick Hollé,Gérard Toffin, Krishna Prasad Rimal: The 32 Maharjan Tols of Kathmandu City, in: Gérard Toffin, The Anthropology of Nepal, Kathmandu 1993 ↩︎
Toffin, a.a.O., S. 44 ↩︎
Allgemeines zur Architektur von Nepal: Ulrich Wiesner, Nepal, Köln 1997 ↩︎
zum nepalesischen Haus: Wolfgang Korn, The traditional architecture of the Kathmandu Valley, Kathmandu 1979, S. P. Deo, Glimpses of Nepal Woodwork, in: The Journal of the Indian Society of Oriental Art (n.s.) III, 1968-1969 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.