Ursula Maria Probst


Die Situation für (geo)politische, systemkritische Filme aus China gestaltet sich durch staatliche Zensurmaßnahmen derzeit schwierig. Independent-Film-Festivals werden abgesagt, Stromzuführungen für Screenings gesperrt, Material konfisziert, staatliche Subventionen gestrichen, Filmschaffende sehen sich gezwungen, im Exil, im Ausland oder in Hongkong (aufgrund des Sonderstatus Hongkongs bis 2046 hat hier die chinesische Zensurbehörde keinen Zugriff) zu produzieren. Während die Filme in China unter Androhung von Strafen und Inhaftierung nicht gezeigt werden dürfen, erregen sie die Aufmerksamkeit internationaler Filmfestivals. Die diesjährige Viennale präsentierte eine Auswahl hervorragender Werke chinesischer Filmschaffender. Durch ihren emphatischen, soziale Spannungen als Folge des ökonomischen Leistungsdrucks und staatlicher Repressalien, sowie Symptome der Entfremdung menschlicher Beziehungen bloßlegenden Stil codieren diese Filme das Genre des im urbanen Raum angesiedelten Beziehungsdramas unter dem Vorzeichen eines eindringlichen, direkten Realismus neu.
Der vom Regisseur Ying Liang gezeigte Film Zi You Xing – A Family Tour trägt autobiografische Züge und thematisiert die durch den Zwang zum Exil wachsende Entfremdung zwischen Familienmitgliedern. Als weibliches Alter Ego des Filmemachers verkörpert die Hauptprotagonistin die Regisseurin Yang Shu, die zu einem Filmfestival in Taiwan eingeladen wird, um dort ihren in China verbotenen Film zu zeigen. In diesem wird die Mutter eines Amok-läufers durch Zwangseinweisung in die Psychiatrie von den Behörden vom Prozess ferngehalten. Yang Shu nützt ihre Teilnahme am Festival als Gelegenheit, um nach Jahren ihre Mutter wieder zu treffen. Der urbane Raum als Austragungsort einer Sightseeing-Tour bildet die Rahmenbedingungen eines aus Angst vor Restriktionen durch die Behörden geheim gehaltenen Familientreffens. Unter der Vorgabe, mit einem Touristenvisum an einer Sightseeing-Tour teilzunehmen, fährt die Mutter mit einer Reisegruppe im Bus, während die Tochter ihr mit einem Taxi gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn folgt. Es gelingt ihnen, die Zwischenstopps für Gespräche zu nützen. Trotz täglicher Skype-Kommunikation ist die Entfremdung durch ausweichende Blicke und anhaltende Schweigsamkeit spürbar, die auch den dreijährigen Sohn und den Ehemann, der als Vermittler agiert, erfasst. Die urbane Aura der Sightseeing-Tour wird durch emotional eindringliche, intime Räume schaffende Kamera-Close-Ups durchbrochen. In dem Augenblick, als die Mutter ihrer Tochter die Tonbandaufnahme übergibt, die sie heimlich gemacht hat, als die chinesische Behörde sie darüber informierte, dass eine Hausenteignung erfolgen und das Grab ihres Vaters einer Straße weichen soll, wird klar, dass die in China verbleibende Mutter die staatlichen Repressalien gegenüber der widerständigen Filmpraxis ihrer Tochter durch die Gefährdung ihrer eigenen Existenz zu spüren bekommt, die durch eine Erkrankung und bevorstehende Operation lebensbedrohliche Züge annimmt. Parallelen zu YingLiangs eigener Biografie bestehen darin, dass die Filmemacherin Yang Shu beim Festival in Taiwan einen Film zeigt, der auf der Kritik an einem Justizfall beruht, einen solchen produzierte auch Ying Liang mit Wo hai you hua yao shu (2013).
Mit Gespür für die Wechselwirkung von menschlichen Beziehungen und den soziale und urbane Strukturen verändernden ökonomischen Dynamiken in China zeichnet der Film Da Xiabg xu di er zuo / An Elephant sitting still ein drastisches Soziogramm der durch die Urbanisierung und Kapitalisierung sich rasant verändernden chinesischen Gesellschaft. 236 Minuten ohne Pause dauert der Debütfilm des Regisseurs Hu Bu, der unter dem Schriftstellerpseudonym Hu Qian bekannt wurde und vor Fertigstellung seines Films 2017 Selbstmord beging. Eine beunruhigende, explosive Atmosphäre der Unbehaustheit, sozialen Verwahrlosung, latenten Anspannung und Gewaltbereitschaft durchdringt den Alltag der ProtagonistInnen.
Vier voneinander zunächst unabhängig erzählte Geschichten verschiedener sozialer Milieus und Generationen verspannen sich im Laufe des Films zunehmend ineinander. Ein Rentner sieht sich mit der ernüchternden Situation konfrontiert, dass sein Sohn, um seiner kleinen Tochter den Schulbesuch in einem besseren Stadtteil zu ermöglichen, in eine kleinere Wohnung übersiedeln und ihn aus seiner Wohnung ins Altersheim ausquartieren will. Ein betrogener Ehemann springt vom Balkon, als er dahinterkommt, dass sein bester Freund der Liebhaber seiner Frau ist. Dieser klärt die Frau posthum darüber auf, dass sich ihr Mann, um ihr den Wohlstand einer komfortablen Wohnung zu bieten, in Schulden stürzte. Die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, die gleichzeitig eine Affäre mit ihrem Lehrer unterhält, scheint einer ständigen Zerreißprobe zu unterliegen. Ein tödlicher Unfall ist die tragische Folge eines Gerangels zwischen einander mobbenden Jugendlichen im Stiegenhaus.Das solidarische Einstehen für den besten Freund – dessen Abstreiten des Diebstahls eines Handys erweist sich schließlich als Lüge – lässt die Situation eskalieren. Wir werden Zeugen, wie der Hund eines Rentners von einem anderen Hund auf einer Baustelle totgebissen wird. Geleitet von dem Fluchtgedanken aus Angst vor der Rache der Familie des gestorbenen Jungen, wird der Versuch gestartet, sich ein Zugticket nach Manzhouli zu organisieren. Die im Nordosten von China an der transsibirischen Eisenbahn gelegene Stadt Manzhouli befindet sich im Grenzgebiet zu Russland und ist so mit dem europäischen Schienennetz verbunden und bildet den Übergangsbahnhof für europäische Güterzüge nach China und Reisezüge von Peking nach Moskau. Es kursiert der Mythos, dass es dort im Gehege eines Zoos einen Elefanten gibt, der regungslos dasitzt und den Rest der Welt ignoriert. Als sich schließlich vier der ProtagonistInnen in einem Bus nach Shenyang befinden, hallt durch die Nacht das Trompeten des Elefanten. Zwar spielt der Film nicht in Manzhouli, dennoch bildet die nordchinesische Stadt als Sehnsuchtsort und Ausweg einen zentralen Bezugspunkt.


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