
Kooperative intellektuelle Produktion in Wien für die Welt
Besprechung von »Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand« von Richard CockettGibt man in die Google-Bildersuche ›Vienna‹ ein, muss man einige Zeit scrollen, um nicht die Oper, den Stephansdom, Schloss Schönbrunn, die Hofburg oder das Schloss Belvedere zu sehen. Kein Wunder, ist Wiens internationales und vor allem touristisches Image immer noch stark von seiner historischen Bedeutung als Hauptstadt der Donaumonarchie und dem damit einhergehenden Prunk geprägt. In diesen prä-nationalstaatlichen Zeiten war Wien noch viel stärker als heute eine Stadt der Zuwanderung und dementsprechend von vielen Einflüssen geprägt. Bekanntlich hat sich die Zahl der Einwohner:innen ab Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfacht. Wien war damals eine der größten Städte der Welt.
Warum erwähne ich das? Der britische Historiker und Journalist Richard Cockett hat 2023 ein Buch über Wien veröffentlicht, das hier auf so viel Begeisterung stieß, dass bereits die englische Originalausgabe eifrig rezensiert wurde. Nicht erst seit letztes Jahr die deutschsprachige Ausgabe erschienen ist, ist Cockett gern gesehener Gast in Wien und muss wohl nicht mehr lange auf die Ehrenbürgerschaft warten. Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand lautet der Titel seines Buchs und wenn Cockett gefragt wird, wie es dazu kam, dass Wien die Voraussetzungen dafür schaffen konnte, lautet eine der Antworten stets, dass die Zuwanderung nach Wien einer der ausschlaggebenden Gründe war. »Anders als die anderen Metropolen war Wien groß genug, um Neuankömmlinge aufnehmen zu können, und zugleich klein genug, um insbesondere innerhalb des Rings Begegnung und Mischung zu ermöglichen.«.
Zuwanderung alleine reicht also nicht, es muss auch Austausch und Begegnung geben. Ein isoliertes Nebeneinander, wie es heute teilweise der Fall ist, ist zu wenig. Dafür braucht es Orte und Räume und hier sieht Cockett eine weitere Voraussetzung dafür, dass in Wien eine Wiege so vieler Ideen wurde, die die Moderne prägten. Dazu gehört natürlich, wie oft beschrieben, das Wiener Kaffeehaus als »demokratischer Klub« und klassischer Third Space. Aber darüber hinaus gab es in Wien viele Stätten der Begegnung abseits der staatlichen Bildungseinrichtungen, wo Menschen gemeinsam debattieren konnten und gemeinsam schlauer wurden. Berühmt und bekannt sind die Psychoanalytische Gesellschaft oder der Wiener Kreis. Cockett schreibt auch ausführlich über das »Privatseminar« von Ludwig von Mieses bei dem sich zwei Mal pro Monat, die späteren Heroen des Neoliberalismus, darunter auch Friedrich Hayek, trafen. Neben den zahlreichen Salons, Zirkeln, Kreisen, Gesellschaften, Kolloquien, Zeitschriftenredaktionen und Kaffeehausrunden spielen für Cocketts Argumentationen die vielen privat initiierten oder im Umfeld des Roten Wien entstandenen Forschungseinrichtungen eine wichtige Rolle.
Einige wahllos herausgegriffenen Beispiele: Das Wiener Psychologische Institut, gegründet von Karl und Charlotte Bühler, oder das Pädagogische Institut, initiiert von Otto Glöckl, an denen Karl Popper, Maria Jahoda, Konrad Lorenz, Alfred Adler oder Paul Felix Lazarsfeld, der später die Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle gründete, vortrugen oder studierten. Die Biologische Versuchsanstalt (Paul Kammerer, Eugen Steinach), das Institut für Konjunkturforschung (Ludwig von Mieses, Friedrich Hayek).
Etliche von ihnen, speziell die damals fortschrittlichen, experimentellen Disziplinen wie Physik und Biologie, waren besonders für Frauen attraktiv, weil es »keine derart fest verwurzelten männlichen Hierarchien [gab] wie in Philosophie oder Medizin«. Das weltweit erste Institut für Radiumforschung, an dem der Frauenanteil mit rund einem Drittel besonders hoch war (Lise Meitner, Marietta Blau, Elizabeth Rona, Berta Karlik). Überraschend ist, dass Cockett die Bedeutung der Volkshochschulen nur beiläufig erwähnt, wären sie doch eine starke Unterstützung seiner Argumentation.
Solche Zusammenschlüsse und Netzwerke waren aber keineswegs ausschließlich liberal oder progressiv. Es gab auch antisemitische, frauenfeindliche und deutschnationale wie beispielsweise die Gruppe Bärenhöhle, der rund 20 Professoren angehörten, die es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht hat, weibliche und jüdische Bewerber:innen von der Universität abzuwehren: »Brillante junge Jüdinnen und Juden, insbesondere Sozialisten, konnten kaum auf eine bezahlte Tätigkeit [an der Universität Wien] hoffen und sahen keine Chancen mehr in Forschung und Lehre«.
Cockett argumentiert, dass der Wert der Bildung in Wien besonders hochgehalten wurde und »unabhängig von den scheinbar unveränderlichen ethnischen, gesellschaftlichen, religiösen und Geschlechterhierarchien des 19. Jahrhunderts leichter zugänglich für jene [war], die nicht den für die Bildung vorherbestimmten Gruppen angehörten«. Anders als etwa in Deutschland sei Intellektualität in Wien eher als »Produkt von Bildung und Erfahrung« gesehen worden und weniger als ein Ergebnis »individueller Begabung« und der »Vorstellung von angeborener Intelligenz«. Damit in Zusammenhang stehen die liberalen Reformen des Habsburger Reiches im 19. Jahrhundert, von denen vor allem die jüdische Bevölkerung, in der Bildung einen besonderen Wert genoss, profitierte. Ihr Anteil machte zeitweise etwa ein Zehntel der Wiener Bevölkerung aus.
Cocketts Ansinnen ist es aber nicht, ausschließlich das Wien der ersten Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Austrofaschismus und Nationalsozialismus zu analysieren und porträtieren, es geht ihm schließlich um »die moderne Welt«. So erfahren wir neben etlichem Bekannten auch viel Neues über Wiener:innen, die Wien den Rücken gekehrt haben oder aus der Stadt vertrieben wurden und Einfluss auf das geistige, künstlerische oder ökonomische Feld ihrer Aufnahme- und Exilländer, vor allem den anglo-amerikanischen Raum, nahmen. Als einen Grund, warum das vielen sehr gut gelang, führt Cockett an, dass sie in Wien von sehr vielfältigen Einflüssen geprägt worden waren, auf denen ihr Wissen und ihre Methoden aufbauten. Das versetzte sie »in die Lage, außerordentlich innovativ« zu agieren. Sie konnten »aus einem großen Reservoir von Kenntnissen und Disziplinen« schöpfen, »die ursprünglich im Roten Wien entwickelt worden waren« und nun paradoxerweise »auch im Kapitalismus sehr nützlich waren«. So erklärt Cockett, die vielen äußerst erfolgreichen Wiener:innen in den USA und England, die »von der PR bis zum Design, vom Marketing bis zum Wagniskapital, von der Werbung bis zur Unternehmungsgründung, vom Design von Verkaufsräumen bis zum Konsumverhalten« Karriere machten.
Bei einem Buch wie diesem ist es klar, dass aus der einen oder anderen Perspektive betrachtet, manche Namen fehlen – Cockett selbst hat bei einer Veranstaltung erwähnt, dass er Hans Kelsen wohl auch hätte aufnehmen müssen. Bei der -Einschätzung der Bedeutung mancher Protagonist:innen kann man anderer Meinung sein – so überschätzt der Autor wohl die Rolle von Otto Neurath für das Rote Wien (»der führende Kopf«), was dessen Leistungen nicht schmälern soll. Über manches ärgert man sich gelegentlich, wie beiläufige, unnötige antikommunistische Bemerkungen. Insgesamt handelt es sich bei Stadt der Ideen aber um ein spannendes Projekt und eine wahre Fundgrube an beeindruckenden Biographien von Menschen, die in Wien einen wichtigen Teil ihres Lebens verbracht haben, von der Stadt auf die eine oder andere Art und Weise geprägt wurden und sie geprägt haben.
Was einem bei der Lektüre nicht erspart bleibt, ist die neuerliche Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus die ›Stadt der Ideen‹ auf Generationen fast zur Gänze zerstört hat, weswegen es unsere Aufgabe ist, alles zu tun, damit faschistische Ideologien nie wieder an die Macht kommen.
Richard Cockett
Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand
Wien: Molden Verlag, 2024
40 Euro, 432 Seiten
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.